Hesmats Flucht
gegen die Russen kämpften. Sie waren mit Geld und Waffen nach Afghanistan gekommen und hatten ihnen beigebracht, die Russen zu töten. Die Männer hatten die Amerikaner ausgelacht. »Wir wissen, wie man lautlos tötet«, sagten sie, »was uns fehlt, sind Waffen.« Die Amerikaner hatten sich darum gekümmert und alles im Land zurückgelassen, als sie verschwanden.
»Die Amerikaner werden sich das nicht gefallen lassen«, sagte einer.
»Ach, was weißt du schon?«, sagten andere.
»Was haben wir uns nicht alles gefallen lassen?«, sagten Dritte.
Der Nachrichtensprecher war entsetzt. Immer wieder schilderte er neue Details über den Krieg, der nach Amerika gekommen war. Die Männer stritten sich nicht über den Krieg, sie stritten über die Propaganda aus dem Radio.
»Was hören wir uns das überhaupt an?«, meinte ein Mann neben Hesmat.
Andere protestierten.
»Aber hört ihr nicht, wie dumm sie sind?«, sagte er. »Sie lügen so offensichtlich, dass selbst wir es merken. Wer kann mir sagen, wie man ein Haus vierhundert Meter hoch bauen kann?«
Sie stritten sich über die Gebäude, die eingestürzt waren.
»Kann es wirklich so hohe Türme geben, wo so viele Menschen leben?«, fragte Hesmat.
Sein Onkel zuckte nur mit den Schultern.
»Und wieso sollte jemand mit einem Flugzeug in ein Hochhaus fliegen?«, fragte ein Älterer und schüttelte den Kopf.
»Schaltet das Radio aus«, sagte Karim, »wir sollen nicht so laut sein und nicht über Afghanistan sprechen.«
Ein paar Männer diskutierten noch stundenlang, während sie auf ein Schachbrett starrten, das einer von ihnen ausgepackt hatte.
»Sie werden sich das nicht gefallen lassen«, sagte der eine wieder, »sie werden zurückschlagen.«
»Und wen sollen sie schlagen?«, fragte sein Gegenüber.
»Sie werden einen Schuldigen finden.«
»Hauptsache, sie schlagen nicht uns«, sagte Hesmats Onkel.
Nach einer weiteren Woche war die Stimmung so aufgeheizt, dass sich die Männer regelmäßig an die Gurgel gingen.
»Sie wollen uns mürbe machen«, sagte Karim, »sie wollen unseren Willen brechen, damit sie ein leichtes Spiel mit uns haben.«
Jedes Mal wenn einer der Schlepper kam und ihnen Essen oder Nachricht brachte, hatte er nur eine Auskunft für die Männer: »Es dauert noch! Es ist nicht so einfach, einen Transport für dreißig Leute zu organisieren.«
Als sie die Schlepper nach den Plänen fragten, lachten sie nur. »Ihr könnt es wohl nicht mehr erwarten«, sagten sie und schlossen wieder die Tür hinter sich.
Zwei Nächte später ging es los. Kurz vor Mitternacht hallten Schritte durch das Haus, und bevor die Tür geöffnet wurde, waren längst alle Männer im Raum wach. Der Schrecken stand ihnen in die Gesichter geschrieben. Sie hatten mit dem Schlimmsten gerechnet. Mit fremden Männern, Polizisten,
fremden Schlägern in Uniformen, die kamen, um sie zu holen. Als die Tür aufging und sich darin die Gesichter der Schlepper zeigten, begrüßten die Flüchtlinge sie wie lang vermisste Familienangehörige.
Die hatten es jedoch eilig. »Trinkt, so viel ihr könnt, nehmt, was ihr habt, und dann raus!« Sie stießen ein paar Männer zurück, die bereits aufgestanden waren, und befahlen ihnen, sich wieder zu setzen. Dann begann die Auslese: »Du, du und du.« Der Finger kreiste über der Gruppe wie ein Schwert, das gleich auf die Köpfe der Männer niederfahren würde. »Du und du.« Elfmal bewegte sich der Finger über die erstarrten Gesichter, elfmal bellte der Schlepper sein »du«. Jedes Mal wenn der Finger über einen der Köpfe hinwegglitt, begann einer der Vergessenen zu schimpfen.
»Haltet’s Maul«, stießen die Männer mit den Waffen hervor, und der Finger bohrte sich weiter durch die Luft.
»Ich gehe nicht ohne meinen Bruder!«, schrie einer der Männer.
»Wenn ihr wollt, verschwindet beide zurück nach Afghanistan«, entgegnete ihm der Schlepper. »Entweder du kommst mit oder ihr beide haut ab.«
»Wo ist meine Frau, ich gehe nicht ohne meine Frau«, sagte ein anderer.
Alles ging so schnell, der Finger glitt weiter von Gesicht zu Gesicht, während die Auserwählten schleunigst zusammenpackten und aus dem Zimmer liefen. Aus dem Nebenraum war Weinen und Geschrei zu hören. Auch hier wanderte ein Finger von Frauengesicht zu Frauengesicht. Kinder wurden von ihren Müttern getrennt, Frauen von ihren Männern. Erst als sie den Lastwagen im Hof sahen, beruhigte sich die Lage wieder etwas. Langsam fanden im Halbdunkel Männer ihre Frauen,
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