Hesmats Flucht
in Afghanistan am Leben halten. In Mazar gab es keine Zukunft mehr für ihn. Vor den Taliban war es schon schlimm gewesen, jetzt aber war alles noch schlimmer geworden, und die ganze Welt sah zu, wie die Taliban ihr Land in den Würgegriff nahmen und alles erstickten.
Der restlichen Welt war Afghanistan egal. Keiner rührte einen Finger für sie. Sie konnten sterben wie die Fliegen, sich gegenseitig die Köpfe einschlagen, es machte keinen Unterschied. Zwanzig Jahre und mehr dauerte das Kämpfen, das Morden und Töten jetzt an und niemand hatte sich dafür interessiert. Vielleicht würde irgendwann jemand den Taliban die Köpfe abschlagen und selbst die Macht ergreifen. Doch es würde nichts ändern. Karim hatte in seinem Leben genug Anführer gesehen, um zu wissen, dass sie nichts wert waren. »Nicht einmal den Dreck unter den Fingernägeln«, sagte er zu seinen Freunden.
Freunde, die gefährlich geworden waren. Freunde, die sich für Informationen gutes Geld verdienten. Freunde, die, vom Hunger, von der Verzweiflung, von den Folterungen und den Schlägen angetrieben, jeden verraten würden. Er konnte niemandem
mehr trauen. »Du nimmst den Mund zu voll«, warnte sein Nachbar ihn. »Sie werden dich holen.«
Als Hesmat geflüchtet war, fühlte er sich schäbig. Ein elfjähriger Junge hatte gewagt, das zu tun, wovon er immer nur gesprochen hatte. Hesmat hatte seine Sachen gepackt und war gegangen. Den sicheren Tod vor Augen, war er eines Morgens aus dem Haus gegangen und nicht wieder zurückgekehrt.
Er hingegen saß immer noch in Mazar und hielt große Reden. Er sprach davon, was sich alles ändern müsste, was er alles tun würde, was das Richtige für Afghanistan wäre. Sobald die Blicke jedoch kritischer wurden, die Ohren spitzer und die Zuhörer gefährlicher, wurde er stumm. Er war nicht zum teilnahmslosen Zuhörer und Mitwisser erzogen worden. Er hatte gelernt, für seine Meinung einzutreten, sich von niemandem den Mund verbieten zu lassen, sich zu opfern, wenn der Preis seine Freiheit wäre.
Das alles hatte er verleugnet. Er hatte sich selbst verraten. Er hatte den Mund gehalten, als sie seinen Bruder, Hesmats Vater, umgebracht hatten. Er hatte den Mund gehalten, als Hesmat von Flucht sprach. Er hatte den Mund gehalten, wann immer er ihn hätte öffnen sollen.
Ein elfjähriger Junge war für sein Recht auf ein besseres Leben aufgestanden und gegangen, er aber jammerte nur über die Ungerechtigkeiten. Natürlich hatten die Taliban von dem Schatz gehört, von dem vielen Gold, das Hesmats Vater in den Jahren als Kommandant bei den Russen angeblich angehäuft hatte und irgendwo versteckte. Natürlich hatten sie ihn deshalb befragt. Wie leicht war es ihm gefallen, seine Hände in Unschuld zu waschen. Wie leicht war es ihm gefallen, seinen eigenen Bruder zu verleugnen. Nichts von ihm zu wissen. »Ich habe ihn nur einmal in den letzten Jahren gesehen«, log er. »Wir haben keinen Kontakt mehr gehabt.«
Die Angst und das schlimme Leben in seiner Heimat hatten ihn so weit gebracht, sich von seinem Bruder loszusagen, seinen toten Bruder zu verleugnen. Würde er leben, würde er ihm den Kopf abschlagen, dachte Karim. Er war zu einem elenden Feigling geworden. Ein Feigling, der zusah, wie sein Neffe in den Tod ging, der zusah, wie sich alles um ihn herum veränderte, der zusah, wie sie sein Leben einschränkten, ihm die Luft zum Atmen nahmen.
Hesmat, der einzige Daseinsbeweis seines toten Bruders, ging weg aus der Stadt, und er hatte nichts Besseres gewusst, als ihm »viel Glück« zu wünschen. Er schämte sich und weinte. Er weinte, bis er keine Tränen mehr hatte. Er weinte, bis er einsah, dass er hier nur sterben konnte. Dann erst hatte er die Kraft gehabt, sich selbst zu helfen. Er hatte das Geld genommen und hatte sich die Papiere besorgt. Papiere, die er jetzt in seinen Händen hielt und die der Beweis dafür waren, wie sehr er versagt hatte. Papiere, die er auch Hesmat hätte besorgen können, Papiere, von denen er nichts erzählt hatte.
Sein toter Bruder hatte ihn an dem Tag verflucht, an dem sein Sohn an ihm vorbei aus der Stadt gegangen war. An ihm vorbei, ohne dass er die Hand ausgestreckt und ihn zurückgehalten hätte. An ihm vorbei in den sicheren Tod. Mit der Zeit war der Vorwurf aus dem Grab seines Bruders immer lauter geworden.
Er betete für Hesmat und weinte. Er verfluchte Hesmat, weil er der Grund für seine schlaflosen Nächte war. Er trauerte um Hesmat, als er nichts mehr von ihm hörte,
Weitere Kostenlose Bücher