Hesse-ABC
für
Zeitungen, die ihm den Haß der nationalistischen Kriegspartei
einbrachten. Hesse gibt auch den »Sonntagsboten für deutsche
Kriegsgefangene« heraus. Drei Jahre lang erschien dieses Blatt
regelmäßig vierzehntägig und wurde in Tausenden Exemplaren in
die deutschen Kriegsgefangenenlager nach Frankreich geschickt.
In einer kleinen Schriftenreihe erschienen im »Verlag der Bücher-
zentrale für deutsche Kriegsgefangene« insgesamt zweiundzwan-
zig Texte von Gottfried Keller bis Thomas Mann. Sie mußten
Hesses strengem ästhetischen Maßstab entsprechen. Natürlich
konnte er in diesen Kriegsjahren nicht mehr unbefangen an das
eigene Werk denken, er sah sich in Tagesroutine gefangen. Hinzu
kamen private Sorgen in seiner zunehmend unglücklichen Ehe mit
Maria ↑ Bernoulli . Rückblickend schreibt er über das unscheinbar-biedere ↑ Bern , das in dieser Zeit ein ähnlich verrucht-verrufener Ort wird, wie später Casablanca oder Tanger: »Ich brachte nämlich
die Kriegstage in einer so scheußlichen Umgebung von Politik,
Spionagewesen, Bestechungstechnik und Konjunkturkünsten zu,
wie sie selbst nur an wenigen Orten der Erde so konzentriert bei-
einander zu finden waren, nämlich in Bern inmitten deutscher,
neutraler und feindlicher Diplomatie, in einer Stadt, die über
Nacht übervölkert worden war, und zwar durch lauter Diplomaten,
politische Agenten, Spione, Journalisten, Aufkäufer und Schie-
ber.« Wen wundert es da, daß er, sofort nachdem er 1919 aus der
Kriegsgefangenenfürsorge entlassen wird, diesen für ihn unheil-
vollen Ort verläßt und – nur mit einigen Bücherkisten – auf die
Südseite der Alpen nach ↑ Montagnola zieht?
Genie
Hesse hat viel über das Genie in der Kunst nachgedacht – und
geht letztlich doch auf Distanz zu diesem Künstlertyp. Genie: Das
ist die bis zur Vereinseitigung gesteigerte Könnerschaft. Genies
verarmen menschlich, in dem Maße sie ihr Werk zur Blüte treiben.
Sie zerstören die Harmonie von Geist und Natur, die alles gelin-
gende Leben anstreben muß. Es sind tragische Gestalten: Hölder-
lin, Novalis, Kleist, Nietzsche – sie führen die Vergeistigung als
Ideal bis zur Selbstvergewaltigung des Naturhaft-Sinnlichen in
sich selbst; sie enden tragisch.
So verbirgt sich hinter der großen, schier unerklärlichen Meister-
schaft des Genies ein einsamer, oft auch kleiner Mensch. Das Ge-
nie allerdings ist in unserer Zeit im Aussterben begriffen, seine
Verfallsform ist der ↑ Virtuose, den Hesses ganze Verachtung trifft.
Über den Typus des Genies äußert Hesse in dem Text »Goethe
und Bettina«, es zeige sich in der Wirkung eines übergroßen Ge-
nies die Problematik des Menschen, »die Ungelöstheit und viel-
leicht Mißglücktheit dieses interessanten Versuchs der Natur«.
Genies seien zwar Bejaher des Lebens, aber Verneiner ihrer selbst:
»Je mehr sie sich ›vollenden‹, desto mehr nimmt ihr Leben wie ihr
Werk die Tendenz an, sich aufzulösen, einer geahnten fernen Mög-
lichkeit entgegen, die nicht mehr Mensch, höchstens noch Über-
mensch heißt, einer neuen Lebensform entgegen, deren niemand
sich zu schämen brauchte, auf welche die Natur stolz sein könn-
te.«
Hesses Einsicht aus zwei Weltkriegen ist jedoch, daß es nicht zu-
erst um Kunst, sondern um den Menschen gehen sollte. Eine
selbstauferlegte Askese, die dem Neu-Klassizismus unmittelbar
nach 1945 entspricht, als manch einer, der es besser wissen sollte
(auch Georg Lukács und Thomas Mann) ↑ Goethe im N amen des Humanismus zum Erzieher des Volkes stilisieren und ↑ Nietzsche
als seinen Verführer in Verruf bringen wollte. Ungeachtet dessen,
daß Geist und Kunst - auch in ihren Vereinseitigungen und tragi-
schen Verirrungen - doch selbst immer zuerst die Opfer geistfeind-
licher Zeiten werden. Für Hesse ist der Typus Genie, aber auch
Mitverursacher der Katastrophen einer Zeit, weil der Maßstab,
nach denen er handelt, nicht der ist, nach denen alle Menschen
leben können. Insofern handelt kein Genie, das sich der Aus-
schließlichkeit seines Könnens als Lebensmaßstab aussetzt, je
verantwortlich. So sieht es Hesse, den sich aufdrängenden Ein-
spruch ausblendend, daß nur eine Zeit, die Genies hervorbringt
und erträgt, eine zu Humanität befähigte ist. Denn was wäre die
Alternative? Der uniformierte, auf Norm gebrachte, verzwergte
Mensch.
Hesse hat diese Ambivalenz im Auftreten des Genies sehr wohl
gesehen und kann dennoch
Weitere Kostenlose Bücher