Hesse-ABC
das rein Abstrakte, die
abgelöste Form. Seine Gedichte wollen sein Innerstes ausspre-
chen, sie blicken mit allen Sinnen in die Welt, wollen mehr fühlen
und mehr sagen: sind Selbststeigerungen des Sinnlichen. Er be-
kennt, schreit, jubelt etwas heraus, aber immer rhythmisch. So
werden seine Gedichte letztlich zu Selbstunterhaltungen eines
Wanderers, dem das Herz überläuft. Es gibt unter Hesses vielen
Gedichten vielleicht nur ein einziges, das die Härte und Kälte des
20. Jahrhunderts auch in der Form atmet. Es ist das Gedicht
↑ » Ravenna« aus dem Jahre 1901. Der Rest tr ägt Züge von Erbau-ungsdichtung. Aber ist das gerecht? Tucholsky, immerhin kein
Kritiker der zögerlichen Art, dementiert zur Hälfte wieder das Ur-
teil der »rührend schlechten« Gedichte. Es bleibt die formale Un-
zulänglichkeit. Aber was heißt das? Gibt es einen objektiven
Maßstab für die Qualität von Dichtung? Hesse selbst schreibt über
das Beurteilen von Gedichten, nur in seiner Jugend habe er ganz
genau gewußt, was ein gutes und was ein schlechtes Gedicht sei.
Das maße er sich nun nicht mehr an, zu beurteilen. Überhaupt:
»Das Lesen schlechter Gedichte ist ein überaus kurzfristiger Ge-
nuß, man hat schnell genug davon. Aber wozu denn lesen? Kann
nicht jedermann selber schlechte Gedichte machen? – Man tue es,
und man wird sehen, daß das Machen schlechter Gedichte noch
viel beglückender ist als sogar das Lesen der allerschönsten.«
Auch Tucholsky spürt etwas in diesen Versen, das ihn zögern läßt,
sie gänzlich abzuurteilen: einen aufrichtigen Ton. Die innere Not
oder Freude, aus der heraus sie entstanden. Hesses Gedichte
kommen Selbstoffenbarungen gleich. Sie gehören eher in die Tra-
dition des evangelischen Kirchenliedes als in den Kontext moder-
ner Lyrik. Diese romantischen Herzensergießungen sind von
einem so schreienden Anachronismus, daß sie schon wieder sub-
versiv wirken. Hesse selbst hat gesagt, seine Gedichte enthielten
zwar viel Schlechtes, aber nichts Gelogenes. Darin liegt auch der
Schlüssel zu ihrem Verständnis. Wie sein Vater und Großvater die
Bibel studierten, an ihren Versen seelischen Halt fanden, so
schreibt Hesse Gedichte aus einem Bekenntniszwang heraus, der
ihn lebenslang festhielt. Verse reimen, das ist für Hesse etwas,
worin sich ihm der Pietismus der Eltern am ungebrochensten er-
halten hat. Eine Form der geistigen Übung, die unbedingt religiö-
sen Charakter besitzt.
Aber dennoch, eines sind die »Romantischen Lieder«, die Hesse
1898 seiner Mutter schickt, trotz aller religiösen Be-
kenntnishaftigkeit keineswegs: keusch. Hesses »Fiebermuse«; für
die Mutter ist es die Schlange im Paradies – eine Verführerin zur
Sünde: »Mein Herz empört sich gegen solches Gift. Es gibt eine
Welt der Lüge, wo das Niedrige, Tierische, Unreine für schön gilt.
Es gibt ein Reich der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Friedens,
das die Sünde als Sünde zeigt und hassen lehrt und uns einführt
zur göttlichen Freiheit. Zu Hohem, Ewigem, Herrlichem ist der
Mensch berufen – will er Staub lecken? Herzenskind, Gott helfe dir
und segne dich und rette dich hinaus!« Der Vater hat die Gedichte
gar nicht erst gelesen. Hesse, den hier noch einmal alle Ohnmacht
befällt, angesichts des frömmlerischen Puritanismus der Eltern, an
deren Herzenskälte er immer noch leidet, fordert von der Mutter
schroff sein Buch zurück.
Für Hesse sind Gedichte immer »Tanzschritte der Seele, Wunsch-
bilder und Zauberformeln«. Im Gedicht kommt das Wort zu einer
heilkräftigen Wirkung. Das ist entscheidend. Sie sind ihm notwen-
dig als Medien der Krisenbewältigung. Nicht zufällig heißt ein
parallel zum »Steppenwolf« erscheinender Gedichtband »Krisis«.
Wie stark manche Texte wirken können, zeigt ihre Vertonbarkeit.
Viele von Hesses Gedichten sind so zu dem geworden, was sie
eigentlich immer sein wollten: Gesang.
Gefangenenfürsorge
Hilfsdienst, der deutsche Kriegsgefangene von Bern aus mit Lite-
ratur versorgte. Hesse gehörte zu ihren Mitbegründern. Ab Mai
1917 wurde der Hilfsdienst dem Kriegsministerium zugeordnet.
Hesse, bislang vom Militärdienst zurückgestellt, bekam die Stelle
eines »Beamtenstellvertreters« und war literarischer Leiter der
Bücherzentrale. Damit konnte er – mit deutscher Staatsbürger-
schaft – in der Schweiz bleiben. Zeitgleich schrieb Hesse aus pa-
triotischer Gesinnung zunehmend pazifistische Texte
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