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Hesse-ABC

Hesse-ABC

Titel: Hesse-ABC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Decker
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wie
    so dicht neben den höchsten Aufschwüngen der Kunst schon das
    Verbrechen liegen kann. Und Hugo Ball formuliert in seinem To-
    desjahr 1927, was dann zum Thema des ganzen 20. Jahrhunderts
    wurde: »Wie ist es beispielsweise möglich, daß dasselbe Volk, das
    einen solchen Wagner hervorgebracht hat und seine jenseitigen
    Stücke abgöttisch verehrt –, daß dieses selbe Volk sich berserker-
    haft in einen Krieg stürzen und alle Romantik, alle Liebe vergessen
    haben kann?«

    Klingsor
    Das Motto dieses vielleicht schönsten Textes Hesses versteckt sich
    im Abschnitt »Klingsor an Edith«: »Ausgedrückte Gedanken sind
    immer tot! Lassen wir sie leben!« Klingsor in seinem letzten
    Sommer, das wird zum Bekenntnis einer ungeheuren Lebenslust,
    einer Schaffenswut, die alles verwandelt. Klingsor selbst verwan-
    delt am Ende den Tod in einen Teil dieses großen Schöpferwerks:
    »Draußen stand der Tod. Er sah ihn stehen. Er roch ihn. Wie Re-
    gentropfen in Landstraßenlaub, so roch der Tod.«
    Ganz sicher ist »Klingsor« der explosivste, der hitzigste Text Hes-
    ses. Ein Zeugnis des Sommers 1919, der Befreiung von allen fal-
    schen Bindungen, die ihn bis dahin in ↑ Bern gefangenhalten. Eine einzige Orgie. Südlich erhitzt in einem Schaffensrausch, der alle
    Vergangenheit in Gegenwart eindampft. Natürlich weiß Hesse,
    dass dieser Befreiungsrausch unter südlicher Sonne nur kurz dau-
    ern wird. Vielleicht nur diesen einen Sommer lang. Darum der
    fiebrige Ton, diese Hast, auf dem Höhepunkt des Sommers all die
    versäumte Sinneslust auf einmal nachzuholen. Klingsor ist der
    Künstler, der um die Frist weiß, die ihm bleibt: einen Sommer
    lang. Aber auch welch unbedingte Lebensbejahung, welch Utopie
    der Erkenntnis! Das Sinnliche und das Geistige, Hesse will es wie-
    der vereinigen, für ihn sind es zwei Seiten lebendigen Verste-
    hens: »Das Sinnliche ist um kein Haar mehr wert als der Geist, so
    wenig wie umgekehrt. Es ist alles eins, es ist alles gleich gut. Ob
    du ein Weib umarmst oder ein Gedicht machst, ist dasselbe. Wenn
    nur die Hauptsache da ist, die Liebe, das Brennen, das Ergriffen-
    sein, dann ist es einerlei, ob du Mönch auf dem Berge Athos bist
    oder Lebemann in Paris.« So spricht ein Mystiker, ein Pantheist,
    der die Natur vergöttlicht und Gott naturalisiert und dabei immer
    den erfüllten Augenblick feiert.
    In keiner anderen Erzählung geht eine Figur so sehr auf in seiner
    Umwelt und bleibt in ihr doch so fremd. Künstler und Bürger –
    nirgendwo anders bei Hesse stehen sie so absolut getrennt, ja fast
    feindlich gegenüber. Die Ironie, mit der Hesse auf den Bürger
    blickt, wird hier regelrecht bissig, wie sein Bild des Professors, der akademischen Wahrheit also, zeigt: »›Denke dir, ein Professor in
    hundert Jahren, wie er den Gymnasiasten predigt: Klingsor, gebo-
    ren 1877, und sein Zeitgenosse Louis, genannt der Vielfraß, Er-
    neuerer der Malerei, Befreiung vom Naturalismus der Farbe, bei
    näherer Betrachtung zerfällt dies Künstlerpaar in drei deutlich un-
    terscheidbare Perioden! Lieber komme ich noch heute unter eine
    Lokomotiven.‹ – ›Gescheiter wäre es, es kämen die Professoren
    darunter.‹ – ›So große Lokomotiven gibt es nicht. Du weißt, wie
    klein unsere Technik ist.‹« Das ist natürlich blanker Hohn. Denn
    die Technik ist Hesse, dem Rousseauianer, längst zu groß gewor-
    den. Seine Technik-Kritik tritt radikal auf: »Bei uns im alten Europa
    ist alles das gestorben, was bei uns gut und unser eigen war; uns-
    re schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser Geld ist Papier,
    unsre Maschinen können bloß noch schießen und explodieren,
    unsre Kunst ist Selbstmord. Wir gehen unter Freunde...«
    Es herrscht Aufbruchs- und Untergangsstimmung zugleich, in
    höchster Intensität. Ein Rausch des Entstehens und Vergehens.
    Klingsor ist der Zauberkönig, der alles verwandelt – am Ende sich
    selbst. Hugo Ball: »Ich kenne wenige Seiten, selbst bei den Größ-
    ten, von einer Fülle und Dichtigkeit, wie jene sechs Seiten aus
    Hesses ›Klingsor‹, die das Selbstbildnis des sterbenden Romanti-
    kers, des Klingsor-Deutschen enthalten.«
    Ein Wort noch zu diesem »Klingsor-Deutschen«. Er ist Hesses Ge-
    genbild zum »Rembrandt-Deutschen«, Julius Langbehns Trivial-
    mythos vom auserwählten deutschen Wesen. Hesses Klingsor-
    Deutscher provoziert in seiner nietzscheanischen Gewalt und Vor-
    nehmheit die dumpfen Wir-sind-ein-aus-erwähltes-Volk-
    Kleinbürger-Deutschen,

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