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Hesse-ABC

Hesse-ABC

Titel: Hesse-ABC Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Decker
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heraufziehen
    sah, es ist da. Als heilsame Utopie: Versöhnung von Glauben und
    Wissen, Natur und Geist. So hoch denkt Hesse vom Mittelalter. So
    sehr denkt er sich selbst zurückgezogen aus einer Wirklichkeit, in
    der er nur noch Verfall erkennt.
    Der etwas ironisch gestimmtere Leser, der sich nicht aufs Pathos
    des Kastalischen Geistesordens einlassen will (deren unmittelba-
    rer Anlaß nicht vergessen werden sollte: die Gegenwelt einer Gei-
    steselite gegen das nationalsozialistische Reich der Barbarisierung
    von Kultur sichtbar zu machen) – liest bei »Kastalien« immer »Ka-
    kanien« mit, diesen musealen Ort der auf umständlich-komische
    Weise (an Komitees und ordensähnlichen Bündnissen herrscht
    kein Mangel) untergehenden k. u. k. Welt, die Robert Musil im
    »Mann ohne Eigenschaften« auf wundervolle Weise karikiert.

    Klein und Wagner
    Eine Selbstmordgeschichte. Hesse schreibt sie im Sommer 1919 in
    Montagnola, wo er, der soeben von allen bürgerlichen Fesseln
    (Familie, Haus, Anstellung) Befreite, einen orgiastischen Aufbruch
    erlebt. In diesem Aufbruch klingt schon der Absturz mit, die tiefe
    Depression, die das Jahr 1920 zu seinem, wie er selbst sagt, un-
    produktivsten machen wird. Aber jetzt ist intensivster Sommer.
    Zusammen mit »Kinderseele« und ↑ » Klingsors letz ter Sommer«
    zeigt »Klein und Wagner« einen neuen Hesse. Einen, der den
    Rausch sucht, dem Abgrund in der eigenen Seele nachspürt.
    Was ist geschehen? Der Beamte Klein hat sein »Gewissen mit ei-
    nem Traumverbrechen belastet«, wie Hugo Ball schreibt. Er war
    im Begriff, Frau und Kinder zu ermorden. In seiner Phantasie. Er
    hat sich der Zwangsidee entzogen, indem er überstürzt und mit
    falschem Paß wie ein Verbrecher auf der Flucht in den Süden rei-
    ste. Den anderen, von dem er weiß, daß er ihn wirklich begangen
    hat, so einen Mord an der eigenen Familie, immer im Kopf. Der
    andere ist der Schullehrer Wagner, von dessen Geschichte er in
    der Zeitung gelesen hat. Wagner wird zu seinem Alter ego, das
    ihn gefangenhält. Aber Wagner ist zugleich auch der in seiner frü-
    hen Jugend heftig geliebte Richard Wagner, der nun wieder in
    ihm aufsteigt und den Mörder mit dem Künstler zu einem einzigen
    diffusen Bild übereinanderblendet. Traumwelt und Realität vermi-
    schen sich auf surreale Weise, so wie inmitten von Vernunft der
    Wahn aufsteigt.
    Hesse operiert hier, wie auch in »Klingsors letzter Sommer«, am
    offenen Nerv des schöpferischen Menschen. Der neben dem
    Künstler immer auch den Mörder mit sich trägt. Der musisch ver-
    anlagte Beamte Klein kann die Zerstörung des heilen Selbstbildes
    nicht ertragen: er ertränkt sich. Aber auf eine sehr künstlerische
    Weise, die bei Hesse wie eine lyrische Abbitte für den profanen
    Akt der Selbsttötung klingt: »Wasser floß ihm in den Mund und er
    trank. Von allen Seiten durch alle Sinne floß Wasser herein, alles
    löste sich auf. Er wurde angesogen, er wurde eingeatmet.« Welch
    ein Bild des Todes! Dem Bürger erscheint der Künstler als poten-
    tieller Mörder, den er fürchtet. Dies gilt es zu bejahen, um frei zu
    werden. Furchtlos muß man in den eigenen Abgrund blicken.
    Denn hier ist der Ort der Verwandlung, wo sich im Bürgertod die
    Künstlerauferstehung ereignet, wo eine Wiedergeburt als neuer
    Mensch möglich scheint: »Es gab kein Ding in der Welt, das nicht
    ebenso schön, ebenso begehrenswert, ebenso beglückend war
    wie sein Gegenteil! Es war selig zu leben, es war selig zu sterben,
    sobald man allein im Weltraum hing. Ruhe von außen gab es
    nicht, keine Ruhe im Friedhof, keine Ruhe in Gott, kein Zauber
    unterbrach je die ewige Kette der Geburten, die unendliche Reihe
    der Atemzüge Gottes. Aber es gab eine andere Ruhe im eigenen
    Innern zu finden. Sie hieß: Laß dich fallen! Wehre dich nicht! Stirb
    gern! Lebe gern!« Klein muß in den Fluten versinken, damit auch
    Wagner untergeht, die alten unfrei machenden Grenzen in Fluß
    geraten. Erst da, wo der Widerstand gegen das Eintauchen ins
    Fließende aufgegeben wird, kann Verwandlung geschehen.
    Die mystische Idee des: Nie ist man so sehr bei sich, wie wenn
    man sich verliert, beherrscht die Texte des Sommers 1919. Klein
    stirbt und wird gleichsam als Maler Klingsor wiedergeboren. Auch
    Klingsor hat nur einen kurzen Sommer. Doch der reicht, um
    Vollendung zu erlangen.
    Die fortdauernde Brisanz dieses Textes – zwei Mal Wagner: Künst-
    ler und Mörder – liegt auch in der zugespitzten Frage Hesses,

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