Hesse-ABC
formgewordener Unmit-
telbarkeit, wie es aus der Faszination, dem Ergriffensein durch
etwas, das größer ist als wir, entspringt. Musik und Krieg schlie-
ßen sich aus. Das resümiert Hesse als die Grunderfahrung seiner
Zeit bei der ↑ Gefangenenfürsorge in Bern, als er im April 1916
seinem Jugendfreund, dem Komponisten Othmar ↑ Schoeck, auf
dem Züricher Bahnhof begegnet und dessen Anblick ihn an jene
heile Welt erinnert, als Musik noch möglich war; eine Erinnerung,
vor der er jetzt zurückscheut: »Es hatte für mich die schreckliche
Zeit begonnen, in der ich die Berührung mit allem Schönen, und
vor allem mit der Musik, kaum ertragen konnte [...] ein paar Takte
Musik brachten die ganze notdürftige Ordnung und Zucht, in der
ich mich hielt, zum Einsturz und weckten eine nicht auszuhaltende
Sehnsucht nach Flucht aus dieser Welt und diesem Kriege.«
Hermann Kasack spricht in seinem Aufsatz über »Hermann Hesses
Verhältnis zur Musik« (1950) aus, was die Musik als »legitimes
Mittel der Magie«, wie Hesse sie nannte, in sich aufschließe: den
Ursprung. »Dann ist die Musik keine Flucht mehr aus der Realität,
sondern deren Bejahung im Reich einer erhöhten Wirklichkeit,
einer magischen Realität, die sich in Geordnetheit, Sinn und Ge-
setzlichkeit gültiger erweist als jede Augenblicksrealität. Nur wenn
diese Transzendenz erreicht ist, sollte von Musik in ihrer voll-
kommenen Bedeutung gesprochen werden – und das gilt zugleich
für alle Dichtung, für alle Kunst.«
Müßiggang
Ist eine Kunst, die man – wo wohl? – bei den Romantikern lernt.
Sehr früh, mit siebenundzwanzig Jahren in seiner ↑ Gaienhofener
Bodenseezeit (1904) hat Hesse den kleinen, mit der Unterzeile »Ein
Kapitel künstlerischer Hygiene« versehenen Text »Die Kunst des
Müßiggangs« geschrieben. Es geht um die Kunst zu leben. Abseits
des Stroms derer, die vom Zeitgeist vorangetrieben werden: im-
mer schneller, immer bewußtloser. Für das geruhsame Jahr 1904
ein wahrhaft prophetischer Text. Schon hier erscheint ↑ Asien als Vorbild, das es zeitlebens für Hesse blieb: »Der Hintergrund jener
morgenländischen Kunst, die uns mit so großem Zauber fesselt,
ist einfach die orientalische Trägheit, das heißt der zu einer Kunst
entwickelte, mit Geschmack beherrschte und genossene Müßig-
gang.« Wieviel Zeit haben die Orientalen doch! Dieser Stoßseufzer
kehrt bei Hesse immer wieder. »Sie sind Millionäre an Zeit, sie
schöpfen wie aus einem bodenlosen Brunnen, wobei es auf den
Verlust einer Stunde und eines Tages und einer Woche nicht groß
ankommt.« Wahrer Reichtum ist der an Zeit, das ist die Grundlage
aller Lebenskunst. Dagegen bei uns aufgeklärten Europäern: Wir
haben »die Zeit in kleine und kleinste Teile zerrissen, deren jeder
noch den Wert der Münze hat...« Was kann man dagegen tun?
Man kann zum Beispiel ↑ Wein trinken. Der Wein bringt uns dem Zeitbegriff der Orientalen näher. Wir fühlen die Besonderheit des
Augenblicks. »Hier ist der Punkt, an welchem ich eine durch solide
Tradition befestigte und geläuterte Tradition des Faulenzens
schmerzlich vermisse und wo mein sonst unbefleckt germanisches
Gemüt mit Neid und Sehnsucht nach dem mütterlichen Asien hin-
über äugt, wo eine uralte Übung es vermocht hat, in den schein-
bar formlosen Zustand vegetativen Daseins und Nichtstuns einen
gewissen gliedernden und adelnden Rhythmus zu bringen.« Prak-
tisch bedeutet das, zu lernen, daß man manche Bücher nur im
Liegen, nicht im Sitzen lesen soll. Noch besser: sich vorlesen las-
sen! Der höchste Zustand dieser Übung ist die »Selbstvergessen-
heit« des Augenblicks. Das Verschmelzen des Ich mit dem Strom
der Zeit, der einen Moment stillsteht: im Genuß. Der Müßiggänger
also ist einer, der in die Zeit hinabtaucht, sich fallen läßt in sie
und dadurch teilhat an ihrem Reichtum.
Für den Künstler ist diese Kunst der Sammlung in der Zerstreuung
unabdingbar: »Manches Künstlerleben besteht zu einem Drittel,
zur Hälfte aus solchen Zeiten. Nur ganz seltene Ausnahmemen-
schen vermögen in stetem Flusse fast ohne Unterbrechung zu
schaffen. So entstehen die scheinbar leeren Mußepausen, deren
äußerer Anblick von jeher Verachtung oder Mitleid der Banausen
geweckt hat. So wenig der Philister begreifen kann, welche im-
mense, tausendfältige Arbeit eine einzige schöpferische Stunde
umschließen kann, so wenig vermag er einzusehen, warum so
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