Hesse-ABC
das ihr
vor den Siegern und vor den Neutralen voraushabt: Ihr könnt den
Wahn jedes Nationalismus, den ihr ja im Grunde längst schon
hasset, durchschauen und euch von ihm befreien.« (»Neue
Schweizer Rundschau«, September 1945) Ricarda Huch antwortet
am 12. April 1946 in der sowjetamtlichen »Täglichen Rundschau«:
»Selbstachtung erweckt Achtung. An der Stetigkeit eines selbst-
verständlichen Nationalbewußtseins haben es die Deutschen feh-
len lassen. Es muß zugestanden werden, daß die Ergebnisse der
letzten Jahrzehnte geeignet waren, unsere Schwächen zu nähren,
unser Nationalgefühl ins Krankhafte zu steigern und nach 1918
gleichsam uns zu verbittern.« Zwei noble Geister im fruchtbrin-
genden Gespräch. Fruchtbringend? Wie derartige Gespräche in
diesem deutschen Lande zu verlaufen pflegen, zeigt Heinrich Diet-
ze in seinem »Dank« an Ricarda Huch ebenfalls in der »Täglichen
Rundschau«: »Hermann Hesse, der den Krieg und seine Nachwir-
kungen nur aus der Perspektive der Ruhe und Geborgenheit kennt,
hat unser Deutschland beleidigt. Das ist beschämend.« Hesse sel-
ber hatte bereits 1919 in »Zarathustras Wiederkehr« geschrieben,
was er von diesem Typus des Deutschen hält: »Habt ihr euch nie
darüber besonnen, woher es kommt, daß der Deutsche so wenig
geliebt, daß er so sehr, so tief gehaßt, so sehr gefürchtet, so lei-
denschaftlich gemieden war?« Hesse blieb trotz aller Opposition
gegen den Geist seines pietistisch-puritanischen Elternhauses
vom schwäbischen Pietismus geprägt. Dieser lebte als Hochach-
tung vor dem Buch in ihm weiter. Auch die schwäbische
↑ Romantik Mörikes war ihm lebenslang Heimat. Ebenso die Er-zählwelt des Schweizers Gottfried Keller. Wie ↑ Nietzsche war Hesse ein europäischer Geist. Mehr noch: ein ↑ » Morgenlandfahrer«.
Nebel
Mit dem bürgerlichen Erfolg, der Familie, dem Haus in Gaienhofen
stellte sich auch etwas Unerwünschtes ein: Das äußere Bild des
Dichters wurde dem inneren immer fremder. Das Resultat war
Einsamkeit. Häufig geht er nun auf Reisen, aber das ist höchstens
eine Ablenkung. Der mythenreiche Bodensee fesselt ihn, der oft
mit dem Boot unterwegs ist, oder einfach auf ihn hinausblickt, auf
eine ungute Weise. Seine ganze Existenz mutet ihm nun an wie
der häufige Nebel über dem See. 1906 hat er darüber die Verse
geschrieben, die die Problematik seiner Gaienhofener Existenz
aussprechen: »Seltsam, im Nebel zu wandern!/Leben ist Einsam-
sein. /Kein Mensch kennt den anderen,/Jeder ist allein.«
Neurotiker
Der ↑ Kurgast is t ein Dokument des Künstlers in der Krise. Seine Nerven reagieren äußerst sensibel auf die »flüchtigen, beweglichen Werte«. Dieser Mangel an Robustheit macht ihn verletzlich
inmitten einer auf Unverletzlichkeiten trainierten Welt. Wer also
kann die Verletzungen heilen? Die Ärzte mit ihrem naturwissen-
schaftlichen Weltbild, in dem gesund und krank normierte Größen
sind, wohl kaum: »Der Naturwissenschaftler weiß ja meistens we-
nig, er weiß unter anderem nicht, daß es gerade für die flüchtigen,
beweglichen Werte, die er imponderabel nennt, außerhalb der
Naturwissenschaft alte, hochkultivierte Meß- und Ausdrucksfor-
men gibt, daß sowohl Thomas von Aquin wie Mozart, jeder in sei-
ner Sprache, gar nichts anderes getan haben, als sogenannte
Imponderabilien mit einer unerhörten Präzision zu wägen.«
Darum sei, schreibt Hesse, der »neurotische Charakter« nicht als
Krankheit, sondern als ein zwar schmerzhafter, doch höchst posi-
tiver Sublimierungsprozeß gesehen, ein durchaus hübscher Ge-
danke – ihn zu leben aber weit wichtiger als ihn bloß zu
formulieren. Und unendlich viel schwieriger ist das natürlich auch.
Zumeist muß sich der Künstler – der Neurotiker! – damit begnü-
gen, heilsame Einsichten zu formulieren.
Die wenigsten Formulierungs-Künstler sind auch Lebens-Künstler.
Die meisten bleiben Neurotiker. Sie sehen sich wie durch eine
Glasscheibe vom Leben getrennt. Alles, was sie dabei tun können,
ist, diesen Zustand immer wieder zu beschreiben.
Nietzsche
Auf den ersten Blick hat Hesse nicht viel gemein mit dem aggres-
siven Philosophen, der immer zuspitzen, polarisieren und angrei-
fen wollte. Auf den zweiten Blick dann doch sehr viel. Augenfällig
wird dies, als Hesse 1919 seine Anti-Nationalismusschrift »Zara-
thustras Wiederkehr« ganz im Tonfall Nietzsches vortrug. Aber
schon weit früher, in seiner Tübinger
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