Hesse-ABC
ein
verdrehter Künstler nicht einfach weiter malt, Pinselstriche ne-
beneinander setzt und seine Bilder in Ruhe vollendet, warum er
vielmehr so oft unfähig ist, weiterzumachen, sich hinwirft und
grübelt und für Tage oder Wochen die Bude schließt. Und der
Künstler selbst wird jedesmal wieder von diesen Pausen über-
rascht und getäuscht, fällt jedesmal wieder in dieselben Nöte und
Selbstpeinigungen, bis er einsehen muß, daß er den ihm eingebo-
renen Gesetzen gehorchen muß und daß es tröstlicherweise oft
ebenso sehr Überfülle als Ermüdung ist, die ihn lahmlegt. Es ist in
ihm etwas tätig, was er am liebsten heute noch in ein sichtbares,
schönes Werk verwandelte, aber es will noch nicht, es ist noch
nicht reif, es trägt seine einzig mögliche schönste Lösung noch als
Rätsel in sich. Also bleibt nichts übrig als warten.«
Jedoch, ein geborener Müßiggänger ist Hesse nicht, er ist ja
schon ein geborener Protestant, schlimmer noch: Pietist. Da hat er
einiges abzuarbeiten in Sachen Müßiggang, wie er sich selbst
eingesteht: »Wenn ich nicht im Grunde ein sehr arbeitsamer
Mensch wäre, wie wäre ich je auf die Idee gekommen, Loblieder
und Theorien des Müßiggangs auszudenken. Die geborenen, die
genialen Müßiggänger tun dergleichen niemals.« Der nicht gebo-
rene, sondern gelernte Müßiggänger aber wird in der modernen
Kultur am ehesten eines: Kurgast. Darum hat Hesse sich auch ein
Nietzsche-Wort als Motto für seinen Kurgast gewählt: »Müßig-
gang ist aller Psychologie Anfang.«
N
Nacktklettern
Zunehmend unwohl fühlt sich Hesse in der bürgerlichen Welt, den
scheinbaren Idyllen vorm Ersten Weltkrieg. Auch die Ehe mit Ma-
ria Bernoulli belastet ihn immer stärker. Als Schriftsteller ebenso
plötzlich etabliert wie auf romantische Motive festgelegt, beginnt
Hesse mit alternativen Lebensformen zu experimentieren. Zurück
zur Natur!, lautete der Ruf Rousseaus, den nun eine ganze Bewe-
gung zu hören beginnt. Ein Protest gegen die Industrialisierung,
die urbane Lebenswelt der Städte. So wird Hesse die Nacktklette-
rei zum Naturbekenntnis (das auch auf einer Reihe von Fotos fest-
gehalten ist).
1907 begibt er sich für vier Wochen in die Naturheilanstalt von
Monte Veritá bei Ascona. Dort existierte eine vegetarische Kolo-
nie, die von dem belgischen Industriellensohn Henri Oedenkoven
und der Österreicherin Ida Hofmann um die Jahrhundertwende
gegründet worden war. In einem Brief, kurz nach seiner Ankunft,
zeigt sich Hesse erst einmal begeistert: »Unser Luft- und Sonnen-
badeplatz, wo man nackt geht... Ich bleibe jedenfalls noch eine
Weile... bewohne eine eigene Holzhütte allein, ganz im Grünen
und habe Ruhe und Freiheit genug. Dabei lebe ich streng absti-
nent und vegetarisch, was mir hier ganz leicht fällt.«
Schnell jedoch stört ihn der Fanatismus der Naturbewegung. Die
sektenartigen Gruppierungen, die eifernd um die »reine Lehre«
streiten, stoßen ihn, der den inneren Frieden und Kraft zum Arbei-
ten sucht, immer mehr ab. Er hat darüber in den Erzählungen »Der
Weltverbesserer«, »Der Waldmensch« und »Doktor Knölges Ende«
geschrieben.
Nichts haßt Hesse so wie die Ideologisierung einer Idee durch
Parteimenschen. In »Doktor Knölges Ende« (1909) sieht er – und
es klingt wie aus Kafkas »Strafkolonie« – die Utopie vom neuen
naturverbundenen Leben zur Ankunft kommen: »Da gab es Vege-
tarier, Vegetarianer, Vegetabilisten, Rohkostler, Frugivoren und
Gemischtkostler,... deren Bestrebungen eine Art von vegetari-
schem Zionismus waren. Da kamen Priester und Lehrer aller Kir-
chen, falsche Hindus, Okkultisten, Masseure, Magnetopathen,
Zauberer, Gesundbeter.« Hesse aber kann dem asketischen Ideal
nichts abgewinnen. Er hat als Kind genug unter den prinzipienrei-
tenden Pietisten-Eltern gelitten. Eine Idee, die voller Pathos Opfer
einfordert, wird lebensfeindlich. Hesse stößt das ab. Er verweigert
sich einer jeden Radikalisierung, die den Menschen als Maß ver-
liert. (1909, im gleichen Jahr wie »Doktor Knölges Ende«, er-
scheint auch Alfred Kubins phantastischer Roman »Die andere
Seite«, in dem – hinter hohen Mauern – das Gelobte Land lockt
und sich dann als im ewigen Halbdunkel liegende Diktatur ent-
puppt.)
Wenn Hesse sich fortan nackt in die Sonne legt, dann allein um
des Gefühls von Freiheit willen, der sinnlichen Selbsterfahrung
des Körpers in der Natur – nicht aber, um einem Götzen
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