Hesse-ABC
Mitternacht«
und spricht die Verheißung nächtlicher Träume aus, die sich von
der hereinbrechenden Nüchternheit des Tages schnöde gestört
fühlen: »Und wie ein Licht im Wind zerbricht, zerstiebt mir meine
Träumewelt.«
Der Dichter ist ein Inselbewohner, der mit seiner »Fiebermuse«
allein sein muß. Da sind sich die beiden mit dem neuromanti-
schen Manierismus ringenden Jung-Dichter Hesse und Rilke abso-
lut einig. Dem Verkauf des Buches erweist sich die Fürsprache des
selbst noch unbekannten Rilke allerdings wenig hilfreich; die ge-
druckte Auflage von 600 Stück wurde nur mühsam abgesetzt.
Montagnola
Als Hesse hier ankam, im April 1919, war es ein »kleines verschla-
fenes Dorf inmitten von Rebbergen und Kastanienwäldern«. Heute
ist es, wie die ganze Schweiz, sichtbar von jener Wohlstands-
krankheit gezeichnet, die Zersiedelung heißt. Kaum mehr freie
Natur. Hesse würde es mittlerweile am Luganer See nicht mehr
aushalten, das ist sicher. Schon in den zwanziger Jahren litt er
unter den automobilisierten Touristen, die jeden Sommer ins Tes-
sin einfielen. Um so mehr zog er sich in den ersten Jahren schrei-
bend – und nun auch malend – zurück in seine Dachwohnung der
↑ Casa Camuzzi .
Morgenlandfahrt
Die Aufzeichnung eines Geheimbündlers, der in auserwählter Mis-
sion unterwegs zu sein meint. Hier deutet sich das »Glasperlen-
spiel« bereits an. Und auch hier handelt es sich um eine
Täuschung. Das Erhabene macht sich klein, es paßt in jede Hosen-
tasche. Es ist ein Spiel, kein Weihedienst. Daran muß sich auch
Hesse immer selbst erinnern – in diesem Punkt, das weiß er, ist er
anfällig fürs Predigen. Hesse schreibt die »Morgenlandfahrt« zwi-
schen Sommer 1930 und Frühjahr 1931. Es ist ein mißverständli-
ches Buch voller Symbole. Nicht zufällig hat Alfred Kubin, Autor
eines der verkanntesten philosophischen Romane deutscher Spra-
che, »Die andere Seite«, das Titelblatt für die »Morgenlandfahrt«
gezeichnet.
Hesse weiß natürlich ganz genau, mit den »Bünden« ist das so
eine Sache. Mittels Institutionalisierung wird noch jeder bezwin-
genden Idee der Geist ausgetrieben, wie an der Geschichte der
Franziskaner (die Hesse gut kennt) zu lernen wäre. Aber es handelt
sich bei den Morgenlandfahrern auch keineswegs um einen Ver-
ein. Wie bei den »Unsterblichen«, die das Personal des »magi-
schen Theaters« stellen, so besteht der Bund aus den seltsamsten
Vertretern aller Zeiten und Wirklichkeitssphären. Goethe hatte in
»Wilhelm Meisters Wanderjahren« von einem Wanderbund ge-
sprochen, und auch die »Gemeinschaft der Heiligen« aus den
christlichen Legenden spielt hier herein, nur nach Kräften säkula-
risiert. So treten als Morgenlandfahrer auf: Zoroaster, Laotse, Pla-
ton, Xenophon, Pythagoras, Albertus Magnus, Mozart, Novalis,
Brentano, E. T. A. Hoffmann, Hugo Wolf und Baudelaire. Aber
auch rein dichterische Gestalten kommen vor, wie Parzival, Don
Quichotte und Tristram Shandy. Aus Hesses eigenen Werken
Hermann Lauscher, Klingsor, Pablo, Goldmund und Siddhartha.
Ebenso tauchen einige Freunde Hesses auf, mit phantastischen
Namen versehen. Darunter Louis der Grausame (der Maler Louis
Moilliet), Jup der Magier (der Architekt Joseph Englert), der König
von Siam (Fritz Leuthold), der Sterndeuter Longus (sein Psycho-
therapeut Dr. Lang) und die Ausländerin (seine Frau Ninon). Und
Hesse selber ist die Hauptperson als Violinspieler und Märchenle-
ser H. H. Ausgangspunkt des Buches ist der Abfall H. Hs. vom
Bund. Denn er glaubt nicht mehr an Wahrheit und Geist, die Skep-
sis hat seinen Glauben zerstört. Er verkauft seine Violine und will
(höchste Blasphemie!) eine Geschichte des Morgenlandfahrer-
bundes schreiben. H.H. wird vor den obersten Gerichtshof des
Bundes gestellt. Sein früherer Diener Leo ist der oberste Stuhl-
herr. Wie lautet der Spruch? Ähnlich wie der der Unsterblichen
über Harry Haller im »magischen Theater« (das Ausgelachtwer-
den!). H. Hs. Abfall wird für eine typische Noviziatdummheit be-
funden, die sich damit erledigt, indem »wir darüber lächeln«. Aber
er muß nun ein zweites Noviziat ableisten. Welch noble Geistes-
haltung Hesses spricht sich hierin aus!
Warum dieses Buch? Es ist die Frage nach der Gestalt des Intellek-
tuellen, seiner Versuchung zum Verrat an die Macht und die Uto-
pie von seiner Heimfindung zum Anachronismus einer geistigen
Existenz. In dieser ungeistigen
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