Hetzer & Kruse 03 - Schattengift
Pinell.
Der Hund hatte etwas gefunden.
Am seidenen Faden
Von den Wänden tropfte es. Es liefen ganze Rinnsale von den Steinen hinab und bildeten Pfützen. Oder waren es Spinnen?
Sie lag einfach da. In einem Gefühl zwischen Traum und Wirklichkeit. Die Isomatte über der alten Matratze schützte so wenig vor der Kälte wie die Decke unter der sie lag. Das Einzige, was sie in der Realität hielt, war der Schmerz. Ohne ihn wäre ihr schwacher Körper vom Schlaf besiegt worden. Ein Schlaf, der vielleicht endgültig geworden wäre. Aber der Schmerz war so stark, dass er ein Wegdämmern verhinderte, obwohl sie alles dafür gegeben hätte, nachzugeben.
Nur weg ins selige Nichts, wo alles warm und gut war, wo nichts mehr wehtat, wo Frieden herrschte für Körper und Seele. Denn nichts war mehr wichtig. Nicht sie, nicht er, noch irgendwer oder irgendetwas. An dieser Schwelle zwischen Leben und Tod erkannte sie ihre eigene Belanglosigkeit.
Eine Woche zuvor
Anke Tatge wusste genau, dass Marie-Sophie einen Monatskalender führte. Dieser lag unter der Schreibtischauflage an ihrem Arbeitsplatz. Sie hatte alles genau berechnet. Gestern, am Donnerstag, war der letzte Tag gewesen, an dem sie ihrer Kollegin das blutverdünnende Medikament verabreicht hatte. Die Wirkung würde noch gut zehn Tage anhalten und eine schwere Regelblutung bei Marie-Sophie zur Folge haben. Sie würde sich dadurch schlapp und müde fühlen, feixte Anke. Und wenn sie Glück hatte, dann wäre es sogar möglich, dass Marie-Sophie ein paar Tage ausfallen würde. Das wäre die Krönung ihres kleinen Plans.
Heute hatte sie außerdem noch etwas anderes vor.
Es gefiel ihr nicht, wie sich die, die früher ihre Freundin gewesen war, an Heiner heranmachte. Sogar einen Kaffee hatte sie ihm vorhin gebracht. Dabei wusste jeder, dass nur ihr dieses Privileg zustand. Sie musste die Rivalin bei Heiner in Misskredit bringen. Und sie hatte auch schon eine Idee, wie sie das machen wollte.
Zu Beginn der Nachmittagssprechstunde zog Marie-Sophie immer die Spritzen für die Allergiker auf.
Dabei musste penibel darauf geachtet werden, dass die genaue Dosis eingehalten wurde. Anke wusste, dass Heiner die exakte Menge immer noch einmal kontrollierte, bevor er sie seinem Patienten spritzte. Es konnte fatale Folgen haben, ja sogar das Leben eines Menschen kosten, wenn hier ein Fehler geschah.
Nachdem Marie-Sophie die fünf Spritzen vorbereitet hatte, stellte sie sie wieder in den Kühlschrank.
Jede lag auf einem kleinen Tablett, fertig präpariert mit Tupfer, Pflaster und Kanüle. Die Spritzen selbst, steckten noch auf der Flasche mit dem Mittel, das der jeweilige Patient bekam. Anke wartete ab, bis Marie-Sophie wieder auf der Toilette war. Sie kicherte in sich hinein. Sie wusste schon warum. Das Bluten hatte begonnen, und sie sah sie jede Viertelstunde rennen.
Einmal hatte sie sich sogar schon umgezogen.
Als der Moment günstig war, nahm sie sich eine der Spritzen und zog eine höhere Dosis in den Kolben. Sie war zufrieden. Niemand hatte etwas bemerkt. Danach stellte sie das Tablett wieder in den Kühlschrank und wartete ab.
Sie brauchte gar nicht lange zu warten, weil Simon gleich der zweite Patient war. Oh je, dachte sie mit dem Anflug eines schlechten Gewissens, als Heiner von hinten schrie. Sie hatte ausgerechnet die Flasche des Kindes erwischt.
Als sie bei ihm im Sprechzimmer die Tür öffnete, verabschiedete ein hochroter Heiner den kleinen Simon mit den Worten „Aber du bleibst noch eine halbe Stunde im Wartezimmer, nicht vergessen!“ Seine Mutter nickte und beide verabschiedeten sich.
Mit großer Beherrschung fragte Heiner, wer denn die Spritzen heute aufgezogen habe. Die Dosis sei falsch gewesen.
Sie sah, dass er gleich platzen würde und dass dieser Vorfall Folgen haben würde.
„Das war Marie-Sophie, wie immer“, antwortete sie,
„aber ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie sich da vertan haben soll.“
„Mit der Dosis hätte der Kleine einen Schock bekommen können. Schick sofort Frau Schulze zu mir.“ Anke machte ein betroffenes Gesicht und nickte.
Marie-Sophie, die schon wieder von der Toilette kam, sagte: „Mensch, ich weiß überhaupt nicht, was los ist. Meine Regel ist so stark, dass ich mich schon zweimal umziehen musste. Wenn ich wieder durch bin, muss ich nach Hause fahren.“
„Das ist jetzt Nebensache!“, sagte Anke mit wichtigem Ton in der Stimme. „Du sollst sofort zum Doktor kommen.“
In Marie-Sophies Hirn ratterte es.
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