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Hetzer & Kruse 03 - Schattengift

Hetzer & Kruse 03 - Schattengift

Titel: Hetzer & Kruse 03 - Schattengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nané Lénard
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Finger sein sollte. Beige Klebestreifen zogen sich über die Kuppe des Stumpfes. Es hatte etwas von einem Päckchen an sich. Fast wie der Umschlag, den sie weggebracht hatte.
    Vorsichtig bewegte sie das Gelenk. Der Stummel rührte sich. Das sah merkwürdig aus. Sie glaubte auch den Rest des Fingers noch zu spüren, aber das war wohl Wunschdenken. Er war definitiv fort.
    Langsam ließ sie sich ins Wasser gleiten und fühlte sich wohl. Wenn sie die verschmierte Hand unter den Schaum tauchte und sie nicht sah, war es fast so, als wäre nichts geschehen. Sie ignorierte das leise Brennen im linken Fingerrest und streckte sich aus. Es war fast perfekt. Fast konnte sie sich einbilden, es sei nie etwas geschehen. Die wohlige Wärme und der leise Duft, der von Sommertagen sprach, ließ sie dahindö sen. Darum bemerkte sie nicht, dass sie ihre Hand schon viel zu lange im Wasser gelassen hatte. Mit einem Schreck fuhr sie hoch und begutachtete den Stumpf. Die Haut war leicht wellig und stand in Teilen ab. Klebestreifen hatten sich in der Feuchtigkeit gelöst und hingen in losen Enden herab. Aber ihre Haut war schön sauber geworden. Wenn man von dem verkürzten Endglied absah, war alles wieder wie immer.
    Aber nichts war wie immer. Das Wasser hatte die Haut aufgeschwemmt, hatte Verbindungen geöffnet, die gerade dabei waren, wieder eins zu werden. Und so gelang es den Bakterien ins Innerste zu gelangen, obwohl es niemand zu diesem Zeitpunkt mehr vermutet hätte.
    Als Anna mit frischer Farbe und neuem Schnitt vom Friseur wiederkam, ahnte sie von alldem nichts. Marie-Sophie war längst wieder in ihrem Versteck im Keller verschwunden und tat so, als ob sie schlief.

Gedanken jenseits des Schlafes
    Aber sie schlief nicht. Sie dachte nach. Bald würde sie wieder wie aus dem Nichts auftauchen. Als wäre nichts geschehen. Sie würde eine Geschichte erfinden, wie sie den Finger verloren hatte.
    Von einem Schatten würde sie sprechen, der sie verfolgt und verstümmelt hatte. Daran, wo sie die ganze Zeit gewesen war, würde sie sich nicht erinnern können.
    Während sie über ihren Plan nachdachte, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie wahr im Grunde ihre Geschichte doch war. Sie hatte sich tatsächlich von Anke verfolgt gefühlt. Zehntausend Euro war es ihrer Kollegin wert gewesen, dass sie verschwand – wie auch immer, wohin auch immer, durch wen auch immer.
    All das war im Dunklen geblieben.
    Sie hatte solche Angst gehabt, sodass sie sich dem entzogen hatte. Todesangst vor einem heimtückischen Mord oder vor bezahlten Killern. Mit einer so großen Summe konnte man sicherlich jemanden anheuern, der diese Drecksarbeit erledigte.
    Sie sollte dringend verschwinden aus dem Leben ihrer Kollegin, die sie fast einmal hätte Freundin nennen wollen.
    Dieser Angst konnte sie nur begegnen, indem sie selbst für eine Weile verschwand. Weg, einfach weg, damit ihr selbst nichts geschah. Sie wollte leben! Nur indem sie das kleinere Übel der Amputation auf sich nahm, überlebte sie. Aber auch das wäre beinahe schiefgegangen. Beinahe hätte sie Anke in die Hand gespielt.

    Ihr Plan wäre aufgegangen und hätte sie nicht einmal etwas gekostet.
    Sie hoffte, dass bei den Befragungen der Kommissare herauskam, was für ein Mensch Anke war. Vielleicht reichten die Fingerabdrücke auf der Schere aus, um ihre Kollegin in Bedrängnis zu bringen, um ihr die Rolle zuzuweisen, die ihr zustand. Ja, sie war schuldig. Wenn es ihr auch nicht gelungen war, irgendeinen mörderischen Plan in die Tat umzusetzen, so hatte sie doch ihre Seele gefoltert und misshandelt, bis sie sich selbst der Situation entzogen hatte.
    Vielleicht würde bei den Befragungen der Kommissare endlich ans Licht kommen, was für ein Mensch Anke Tatge wirklich war.
      
      
Nächstenliebe
    Als sie gesehen hatte, dass Marie-Sophie schlief, beschloss sie, sich auch selbst etwas Ruhe zu gönnen.
    Diese Stunden beim Friseur empfand sie immer als anstrengend. Als sie noch keine Farbe gebraucht hatte, war es ruckzuck gegangen. Jetzt saß sie mitunter mehr als zwei Stunden, um hinterher verjüngt durch die Tür zu treten, wie ein Schmetterling, der seinem Kokon entweicht.
    Das Bild ließ sie nicht los. Im Grunde war auch Marie-Sophie jemand gewesen, der sich einen Kokon gewebt hatte. Auch sie wollte frei und neu aus ihrer alten Hülle und ihrem früheren Dasein hervorsteigen.
    Doch je länger sie dort unten lag – zu Beginn dem Tod näher als dem Leben – desto unsicherer wurde Anna, dass dies der

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