Heuchler
hatte die Zeit in ihrem lehmigen Versteck ebenso überdauert wie Karlas ausgeschlagene Zähne, die in einem Säckchen von der Decke hingen und anderen Dämonen als Warnung dienen sollten.
Nur den Symbolen an der Wand sah man an, dass der zweite Beweis seiner Macht schon lange zurücklag. Das Blut hatte schon fast seine Farbe verloren, und nur wer wusste, dass es da war, sah es auch. Vielleicht war es an der Zeit, es zu erneuern, kam ihm in den Sinn. Aber sicher nicht mit dem wertvollen Lebensquell des Jungen, protestierte eine andere Stimme in ihm. Niemals durfte das Blut eines Jungen mit dem eines Mädchens vermischt werden! Diese Katja käme da schon eher infrage, aber so etwas konnte man nicht planen, so etwas passierte einfach.
In den letzten Tagen hatte er sich beherrscht und die Voraussetzung für die Bestrafung geschaffen, doch er wusste, dass er sich nicht alleine auf seine Technik verlassen konnte! Handys, Facebook und seine Kameras erzählten ihm viel, aber nicht alles! Es war an der Zeit, hinauszugehen und die Dinge einzuleiten, die diesem Mike Köstner seine Heucheleien vor Augen führen würden. Dinge, die ihm zeigen würden, wie abgrundtief der eigene Egoismus in ihm verwurzelt war und wie banal dabei das Wort Liebe wurde.
Da es gerade einmal 7 Uhr morgens war, konnte er gefahrlos hinausgehen. Der schmale Bach war nur einen Steinwurf weit entfernt, aber vom See aus ziemlich gut einsehbar. Er kramte die kleine Waschtasche aus seinem Rucksack, zog sich das fleckige T-Shirt über den Kopf und schob den Ast, der den Eingang verschloss, beiseite. Die Morgensonne traf seine Augen wie Nadelstiche, aber er ignorierte dies und blickte in den Himmel. Wieder war keine Wolke zu sehen und er war sich sicher, hier noch nie eine derart lange Hitzewelle erlebt zu haben. Doch auch das würde sich ändern! Alle Wetterdienste hatten Unwetter vorausgesagt, und das, was dann folgen sollte, würde den Menschen wieder Demut beibringen … genau wie seine Taten.
Das kalte Wasser des Baches verschlimmerte seine Magenkrämpfe, was für ihn aber völlig normal war. Sein Vater hatte das kalte Wasser missbraucht, um, wie er sagte, einen harten Nordmann aus ihm zu machen und er hatte dabei nichts ausgelassen. Selbst im tiefsten Winter wurde ein Loch in den gefrorenen See geschnitten, und ob sie wollten oder nicht, sie mussten hinein. Einmal hatte er dabei sogar das Bewusstsein verloren und sein Bruder musste ihn herausziehen. Niemand hatte daraufhin verstanden, warum er seinem Bruder zum Dank dafür auf die Nase schlug … Dabei hatte er sich in dem Zustand des Ertrinkens sehr wohl gefühlt und wäre den Weg gerne bis zum Ende gegangen.
Die Reinigung seines Körpers dauerte länger als geplant. Der fünf Tage alte Bart war zu lang und verstopfte immer wieder die Klingen seines Rasierers. Das Resultat war ein völlig zerschnittenes Kinn und stark gereizte Wangen, was aber egal war, denn er würde sein Gesicht sowieso verstecken müssen. Seine Tarnung musste perfekt sein, sonst würde Köstner die Ähnlichkeit sofort erkennen.
Zurück in der Höhle wollte er gerade die aufwändig verzierte Holzschachtel aus dem kleinen Alukoffer holen, als ihn sein Magen in die Knie zwang. Sein Dämon schrie nach Befriedigung und er zeigte dies mit einem Schwall Blut, vermischt mit dem noch unverdauten Knäckebrot des Frühstücks.
Nachdem er sich übergeben hatte, ging es ihm wieder besser und er konnte sich auf seine Aufgabe konzentrieren. Demütig, und als wäre sie sehr zerbrechlich, nahm er die Holzschachtel heraus und hielt sie einige Minuten einfach nur in seinen Händen. Dann atmete er tief durch und öffnete sie.
Jetzt zeigte sich der Wert einer guten Präparationsarbeit! Die beiden Haarteile lagen vor ihm, als hätte er sie gerade erst abgezogen. Jeder andere hätte sich vermutlich aufgrund des süßlichen Geruches übergeben, aber seine Schleimhäute waren durch den ständigen Gebrauch von Chemikalien und dem heißen Kaffee nicht mehr in der Lage, so etwas wahrzunehmen. Ihm blieb nur das Gefühl, welches das Haar unschuldiger Kinder auf seiner Haut hinterließ. Ehrfürchtig nahm er das erste Haarteil heraus, und schon bei der ersten Berührung waren sämtliche Bilder wieder präsent. Der kleine Paul war der Erste, den er von den Lasten und Lügen seines Lebens befreit hatte – und auch wenn er hinterher mit seiner schlechten Arbeit beim Abziehen des Haarschopfes gehadert hatte, wusste er, dass es richtig war. Schließlich war es sein
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