Heurigenpassion
innovativen »Spaßvogels«, einen Anwalt in Verlegenheit oder noch Ärgeres zu stürzen?
Möglich, aber unwahrscheinlich. Der Absender hätte wissen müssen, dass sämtliche an Marinov adressierte Post durch die Post-Sperre auf ihrem oder dem Schreibtisch eines anderen Anwaltes landen würde. Mit dieser beschämenden Einschränkung der eigenen Verfügungsgewalt gingen die Betroffenen in der Regel sehr verschlossen um. Der Kreis der als Täter in Frage kommenden Personen wäre ganz klein und auf die unmittelbare Umgebung Marinovs zu beschränken. Außer man rechnete den Richter und seine Mitarbeiter dazu. Und den Vorstand des zuständigen Postamtes sowie die dort Beschäftigten. Da kam doch eine ganz schöne Zahl zusammen. Ferner waren dann noch jene Personen zu berücksichtigen, die die Insolvenzdatei oder die Aushänge am Bezirksgericht lasen. Sie hatte keine Ahnung, wie viele das sein konnten. Aber sicher eine ganze Menge. So kam sie also nicht weiter.
Dann das Foto. Sicher, so was ließ sich unschwer stellen. Wie echt Fakes wirkten, davon konnte sich jeder selbst im Internet überzeugen. Die Echtheit war aber ohne nähere Untersuchung auch nicht auszuschließen. Solange das Gegenteil nicht bewiesen war, musste man davon ausgehen, dass das Bild echt war.
Eine wichtige Frage war auch: Warum sollte sich jemand die Mühe machen, einen Anwalt, das Objekt seines Scherzes in einen Gewissenskonflikt oder eine noch blödere Situation bringen zu wollen? Vielleicht, um sich an eben diesem Konflikt zu weiden. Das mochte schon sein. Bloß wer hatte die Möglichkeit, die Entwicklung von einem Platz aus zu beobachten, von dem aus man auch alles gut sehen konnte?
Sie ging also einmal davon aus, dass der Brief ernst zu nehmen war. Falls Sie jetzt die Polizei verständigte, griff sie in den autonomen Entscheidungsbereich Marinovs ein. Sie durfte zwar seine Post lesen, nicht aber irgendwelche Entscheidungen für ihn treffen. Was wäre, wenn die Sache schief ging und Amelia was immer auch zustieß? Daran wollte sie gar nicht erst denken.
Andererseits war sie als Anwältin ein Organ der Rechtspflege und als solches verpflichtet, jede Gesetzesverletzung, die nicht unter die Schweigepflicht fiel, den zuständigen Behörden zu melden. Falls sie dies unterließ, verstieß sie gegen das Gesetz und würde schon einen guten Grund dafür nennen müssen. Wenn dieser Amelia etwas passierte, sogar einen sehr guten.
Konnte man vielleicht mit »übergesetzlichem Notstand« argumentieren, sie suchte fieberhaft nach einem Ausweg. Dazu kamen aber auch noch ihre Pflichten als Masseverwalterin und die zumindest theoretische Chance, an weiteres Geld für die Gläubiger heran zu kommen. Der Spagat, der von ihr erwartet wurde, versprach übermenschlich zu werden. Die Quadratur des Kreises war ein Klacks dagegen.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und sie fand keinen Punkt, an dem sie sich hätte anhalten, aus dem Karussell aussteigen können. Daher tat sie, was sich in vergleichbaren Situationen bereits bewährt hatte. Sie holte sich frischen Kaffee, legte die Beine hoch und schloss die Augen. Für einige Minuten widmete sie sich dem, was sich »Autogenes Training« nannte.
* * *
Wegen des dichten Schneefalls, der dadurch bedingten hochwinterlichen Fahrbahn und vor allem der nicht aufgezogenen Winterreifen benötigte Palinski fast zwei Stunden, bis er im Gasthof »Schmutzenthaler« in Wilhelmsburg eintraf. Er traf Wallner und Franca Aigner im großen Stüberl im Gespräch mit den beiden örtlichen Gendarmen und einigen Einheimischen an.
Alle hatten die junge Frau schon im Ort gesehen, zum Teil auch gesprochen. Sie sprach recht gut Deutsch, allerdings mit deutlichem Akzent, stammte wahrscheinlich vom Balkan. Und vermutlich lautete ihr Vorname Elena.
Das einzige, was nicht bekannt war, ja, worüber nicht einmal seriöse Vermutungen möglich schienen, war ihre Wohnadresse. Wallner hatte den Anwesenden daher die Methode der »negativen Selektion« vorgeschlagen, was die Angelegenheit eher langwierig machte. Gemeinsam mit den Gendarmen gingen die Einheimischen den ganzen Ort durch und schlossen alle jene Adressen aus, an welchen die junge Frau sicher nicht zu Hause war.
Bei Palinskis Eintreffen hatte man immerhin schon die eigentliche Stadt ausgeschlossen und war bereits bei den Siedlungen am Stadtrand angelangt.
Ein Blick auf die Uhr verriet Franca, dass das Baby im Fall der Fälle jetzt bereits 40 Stunden und länger alleine war.
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