Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
er arbeitet in London, verdient zehn Pfund die Woche, damit er später mal zwölf verdienen kann, und ich stampfte auf den Boden, und er stampfte auf den Boden, und dann küßte er mich, Knall, Boing auf den Mund [Auslassung] …
Seit der vollständigen Edition wissen wir, was in der Auslassung stand: daß Ted ihr beim Küssen ihr rotes Haarband und die silbernen Lieblingsohrringe herunterriß. Das könnte ihre heftige Reaktion erklären, die ohne die zensierte Stelle unverständlich blieb:
Und als er meinen Hals küßte, biß ich ihn heftig und lang in die Wange, und als er aus dem Zimmer ging, lief ihm Blut übers Gesicht.
Das war der Anfang; und dann steigerte es sich. Wie es genau endete, wissen wir nicht, da kam Hughes’ Streichholz zuvor.
Zweig, in den Himmel hochschnellend
Um jedoch auf den Enzyklopädisten Hocke zurückzukommen:
Ein
Tagebuch kannte auch er nicht. Er konnte es nicht kennen, weil es noch nicht veröffentlicht war: das Tagebuch Thomas Manns. Und hier aber findet sich die bislang schönste und kompakteste Erklärung der Motive, die den Diaristen machen.
«Ich liebe es», heißt es da,
den fliegenden Tag nach seinem sinnlichen und andeutungsweise auch nach seinem geistigen Leben und Inhalt fest zu halten, weniger zur Erinnerung und zum Wiederlesen als im Sinn der Rechenschaft, Rekapitulation, Bewußthaltung und bindenden Überwachung … (11.2.34, Küsnacht)
Womit die zentralen Motive fürs Führen eines Tagebuchs endlich versammelt wären. Offenbar liegt der Hauptgrund gar nicht darin, es später wiederzulesen. Wesentlicher scheint etwas anderes. Zum einen das Motiv des Festhaltens: der lebenslange Versuch, die stetig rinnende und davonströmende Zeit durch kleine Dämme zu bremsen; die fliehende Zeit gewissermaßen am Schlafittchen zu packen. Es ist ein Versuch, der zwar immer scheitern muß, weil sich die Zeit nicht festhalten läßt. Aber durchs Aufschreiben gewinnt man die Illusion, wenn man ihr schon ausgeliefert sei, dann nicht ganz ohne Gegenwehr. Die Körnchen rinnen durch die Enge des Stundenglases, ob man hinsieht oder nicht. Aber der Tagebuchschreiber, der übrigens oft etwas Pedantisches hat, vergewissert sich, daß der Sand nicht etwa schneller rieselt oder jemand vergessen haben könnte, die Uhr umzudrehen.
Das nächste ist das Motiv der Bewußthaltung. Bewußtsein hängt eng zusammen mit Sprache, auch wenn es nicht in ihr aufgeht. Erst durch die Versprachlichung gewinntdas Erlebte feste Kontur. Ohne die rückblickende Anordnung und sprachliche Formung verfließt es schnell wieder ins Vergessen und Bewußtlose. Was benannt ist, scheint präsenter, ja scheint realer als das, was sich einfach wortlos vollzieht.
Benennen heißt auch bannen: Was erst einmal in Worte gefaßt ist, verliert schon ein wenig von seinem Ärgerlichen oder Beunruhigenden. Wenn man an einer Krankheit leidet, ist man schon halb getröstet, sobald sie einen Namen hat. Nicht umsonst ist der schlimmste Schrecken der namenlose. Und auch schon bei den kleineren Unbilden des Alltags hat es etwas Befriedigendes, wenn man sie in wohlgesetzte Worte fassen und sich ihnen dadurch überlegen oder zumindest gewachsen zeigen kann. Wenn die Unterwäsche entweder zu klein oder zu groß ist, so kann man seinen Grimm darüber wenigstens maßgeschneidert formulieren.
Und schließlich das entscheidende Stichwort und Motiv: das der Rechenschaft. Es ist dieses Stichwort, das deutlich macht, warum es die protestantische Wurzel ist, die sich im Tagebuchschreiben zeigt, und nicht etwa eine allgemein religiöse.
Worin liegt der Unterschied? Schriftstellerinnen seien immer protestantisch, hat der rumänische Aphoristiker und Schopenhauer-Schüler Emil Cioran einmal bemerkt; die katholischen hätten ja die Beichte. Damit hat er einenentscheidenden Unterschied benannt. Der Katholik hat das Sakrament der Beichte, der Protestant hat sie nicht. Wem aber sollte er Rechenschaft ablegen, wem seine Sünden anvertrauen, seine Gewissensfragen, seine Zweifel? Das Tagebuch als Beichtstuhlersatz – das trifft gewiß nicht alle seine Funktionen, aber doch eine kardinal wichtige.
Petrarca pflegte in einem Heft das Zwiegespräch mit Augustinus, der fast tausend Jahre tot war. Katherine Mansfield adressierte ihre Tagebucheinträge direkt an ihren verstorbenen jüngeren Bruder. In ein schönes Bild faßt es der Lebensreformer und Verfasser von
Walden
Henry David Thoreau. Sein Tagebuch sei wie
ein Blatt, das auf dem Weg über meinem Kopf
Weitere Kostenlose Bücher