Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Der Blog ist, um dies schon anzudeuten, die neueste Form des Tagebuchs: öffentlich einsehbar für jeden, der den Namen des Autors googlen kann.
Eine andere originelle Variante des altmodischen Tagebuchs entsproß ebenfalls der DDR. Christa Wolf begann 1960 auf Anregung der Zeitschrift
Iswestija,
jedes Jahr über einen bestimmten Tag Protokoll zu führen; es war der 27. September. Über fünfzig Jahre lang hielt sie diese Übung durch, noch im Jahr ihres Todes 2011 beschreibt sie den 27. September. Was dabei entstand, ist eine Art privater DDR- und Nachwende-Chronik als Daumenkino: Wenn man die einzelnen Skizzen rasch hintereinander durchblättert, ergibt sich ein Ablauf und ein Bewegungsbild. Als Motiv für ihr Tagebuchprogramm erklärt Christa Wolf, sie spüre die Pflicht, gegen den «unaufhaltsamen Verlust von Dasein» anzuschreiben. Allein schon das Wort Pflicht deutet wieder auf die protestantischen Wurzeln.
Die rigide Selbstprüfung, die zum Protestantismus gehört, wird im Tagebuch einer anderen DDR-Autorin und Freundin Christa Wolfs auf die Spitze getrieben, allerdings, ganz unwolfisch, auf eine erotisch vibrierende. Die schöne Amazone, wie sie selbst sich nannte, noch bevor sie ihre Brust verlor, die früh verstorbene Brigitte Reimann, ein Geheimtip bis heute, hält in ihren Aufzeichnungen Gerichtstag über sich selbst – mit welcher Strenge, werden wir gleich sehen.
Gerichtstag halten über sich selbst, ein Ibsen-Wort: Das eben ist gut protestantisch – spätestens seit den
Confessiones
des Augustinus, der sich die Betrachtung der eigenen Sünden nach einer offenbar tumultuösen Jugend zur Lebensaufgabe gemacht und entscheidenden Einfluß auf Martin Luther hatte.
Anders als für die Protestanten steht für den Katholiken das Tagebuchschreiben fast unter Sündenverdacht. Im Jahre 1753 befand der Kardinal Passionei, ein Christ dürfe kein Tagebuch führen wegen der Pflicht zur Humilitas. Das Tagebuchführen sei eine, wie der Fachbegriff lautete,
occasio proxima
zur gefährlichsten Sünde, der Selbstliebe und des Hochmuts. «Unsere Taten», mahnte der Kardinal, «sind unsere geliebten Töchter, unsere allzu schönen Frauen, zu denen wir uns immer wieder hingezogen fühlen, über deren Schönheit wir staunen wie Luzifer und unser Vater Adam.» Im Tagebuch lauert gleichsam dieteuflische Schlange. Das merkt, in Klammern gesprochen, auch der
Harry-Potter-Leser,
wenn dort das Tagebuch Lord Voldemorts zum teuflischen Verführer der unschuldigen Ginny Weasley wird.
Was natürlich nicht heißt, daß es nicht auch viele Katholiken gäbe, die ein Tagebuch führten. Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, schrieb in der Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem
Bericht des Pilgers
das erste Tagebuch der Neuzeit überhaupt. Römisch-katholisch erzogen wurde der 1871 im Languedoc geborene Lyriker und Essayist Paul Valéry, dessen
Cahiers
noch heute als Schatzkammer der Tagebuchliteratur gelten. Wobei es doch wieder bezeichnend ist, daß das bedeutendste moderne Tagebuch im katholischen Frankreich das erwähnte
Journal
des calvinistisch erzogenen André Gide wurde. Ein Jahrhundert früher waren es die Schriftsteller-Brüder Edmond und Jules de Goncourt, denen die Konversion der eigenen Tante ein Dorn im Auge war. Die Goncourts, die den noch heute bedeutendsten Literaturpreis Frankreichs gestiftet haben, sind auch ein weiteres Beispiel dafür, daß sich das Tagebuch als literarischer Nachruhmretter erweisen kann. Kaum einer kennt die Brüder noch wegen ihrer Romane, man kennt sie wegen ihrer gemeinsam verfaßten, luzide verklatschten Tagebücher. Über die sich seinerzeit schon Marcel Proust amüsiert hatte. Der Schriftsteller Pierre Loti, befragt, ob es in seiner Familie Seeleute gegebenhabe: «Ja, ich hatte einen Onkel, der auf dem Floß der
Medusa
aufgefressen wurde» …
Noch eine weitere Abweichung von der Regel: Ein ganz eigenartiges Tagebuch stammt von dem 1940 zum Katholizismus konvertierten Österreicher Heimito von Doderer. Der aber ebenso wie Brigitte Reimann ein eigenes Kapitel verdient.
Die Monroe, splitternackt
À propos Klatsch aber und à propos Katholik: Eine besonders aparte Unterart des intimen Tagebuchs verdankt die Nachwelt dem griechisch-katholisch getauften Andy Warhol. Die Überlieferung dieses Tagebuchs ist kurios. Genauer gesagt, ist es nämlich gar kein echtes Tagebuch, sondern eine Mitschrift. Warhol hat nicht selbst geschrieben, sondern jeden Morgen eine Stunde mit seiner
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