Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Tagebücher berühmt. Sie bleiben bedeutend als Dokument einer narzißtischen Selbstüberhöhung, wie sie vielleicht nur wenigen so glückhaft gelang.
Doch noch diesseits der Lügen und groben Fälschungen ist es mit dem Veröffentlichen zu Lebzeiten eine heikle Angelegenheit. Wenn es den Augen der Zeitgenossen unterbreitet wird, ist das Tagebuch oft ein Agent in bestimmter Mission. Es soll der Mit- und Nachwelt den Weg weisen, wie sie den großen Mann, die tapfere Frau zu verstehen habe; es soll die erlebte Geschichte sanft korrigieren und in erfreulicheres Licht rücken. Fast unweigerlich dient es der Selbstbespiegelung – dabei ist der Spiegel nur selten sounvorteilhaft wie in manchen Hotelfahrstühlen, in denen man bei jedem Lift innerlich zusammenzuckt, weil er uns bittere Wahrheiten zeigt. Selten auch ist er so pedantisch wie der Spiegel in
Schneewittchen.
Er soll dem Autor versichern, er sei der schönste, wahlweise klügste, mutigste oder prophetischste Mann im ganzen Land; und das bitte ohne lästige Einschränkung. Wir reden von Autoren, weil sie bekanntlich eitler sind als Autorinnen.
Montauk und die Box of Matches
Bei manchen von ihnen, beim Ernst Jünger der
Strahlungen
oder auch bei Max Frisch, blieb der Eindruck dieser inneren und äußeren Aufhübschung nicht aus. Selbst Friedrich Dürrenmatt – oder gerade er – soll geseufzt haben: «Was mich an Frisch so stört, sind diese Unwahrheiten, auch in den Romanen, zum Beispiel Montauk. Das hat er als autobiographisches Werk ausgegeben. Wenn Sie ihn persönlich kennen, dann schütteln Sie nur den Kopf. Da stimmt einfach gar nichts.»
Wir wissen nicht und müssen es auch nicht wissen, was Dürrenmatt genauer vorschwebt. In jedem Fall ist es mit Frisch komplexer. Anders als der Erbauer des Textmassivs Amiel hatte Frisch mit seinen Tagebüchern nieein echtes
Journal intime
im Sinn. Das Tagebuch war vielmehr schon immer eine literarische Form. Nach der Maßgabe Canettis wäre Frisch damit ein Fälscher: Wer Literatur verfassen will, wenn er angeblich nur Tagebuch führt, der denkt zwangsläufig an die künftige Leserschaft. Frisch wiederum hätte und hat argumentiert, zur Wahrheitsfindung tauge auch die Fiktion, wenn nicht sogar: nur die Fiktion. Eine Rolle spielten wir doch ohnehin alle, ob wir nun wollten oder nicht – das war ja das Lebensthema Max Frischs. Warum sollte das beim Führen eines Tagebuchs anders sein? Gerade der Ehrlichste spielte seine Rolle vielleicht nur am perfektesten. Wahrheit war Illusion, dem Rollenspielen entkam man nicht, konnte man nicht entkommen, das ungeschützt Authentische war selbst nur Fiktion. Für Frisch unterlag das Tagebuch als literarische Gattung darum anderen Kriterien als denen der Aufrichtigkeit.
Begonnen hatte er damit, als er im Militärdienst die literarische Karriere innerlich fast schon aufgegeben hatte. Von existentieller Bedeutung war das Tagebuch also auch für ihn. Als er es 1940 unter dem Titel
Blätter aus dem Brotsack
veröffentlichte, hatte es ihm den Weg zum Schriftstellertum gewiesen. Fortan wurde das fiktionale Tagebuch zu seiner Prosaform schlechthin. Viele der wichtigsten Werke Max Frischs wie
Stiller, Homo faber, Montauk
sind rein formal ans Tagebuch angelehnt. Es sei nun einmal die ihmangemessene Prosaform, erklärte Frisch dazu, wählen könne er sie ebensowenig wie die Form seiner Nase.
Ein kurzer Sprung sei hier erlaubt, aus Zürich über den Atlantik nach Maine. Dort lebt der amerikanische Autor Nicholson Baker, den mit Frisch sonst wenig verbindet, der aber dessen Penchant zur Form des fiktionalen Tagebuchs mit ihm teilt. In seinem Roman
Eine Schachtel Streichhölzer
beginnt jedes Kapitel mit der Uhrzeit, zu der sich Bakers alter ego noch vor dem Morgengrauen mit dem Laptop vor seinem Kamin niederläßt, das Feuer mit einem Streichholz aus der
Box of Matches
anzündet und zu schreiben beginnt –
Guten Morgen, 3.49 Uhr,
und ich verhalte mich, als wäre alles normal. Als mein Apfel wieder mal vom Ascheimer fiel und über den Fußboden rollte, machte er ein leises ominöses Geräusch, und da erinnerte ich mich an eine Besprechung, die ich als Kind gelesen hatte, über einen Film von Roman Polanski, in dem jemand der Kopf abgeschlagen wird, der dann die Treppe hinabpoltert.
Was ihm so früh schon alles Bizarres einfällt! Aber hat ihn die Erinnerung nicht getäuscht? War es nicht statt eines Polanski-Films eher Robert Aldrichs «Wiegenlied für eine Leiche», in dem jener Kopf
Weitere Kostenlose Bücher