Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
hängt. Ich biege den Zweig zurück und schreibe meine Gedanken und Gebete darauf; und wenn ich ihn loslasse, schnellt er zurück und weist das Geschriebene dem Himmel vor, als wäre es nicht in meinem Pult eingeschlossen, sondern ein so öffentliches Blatt wie irgendeines in der Natur.
Das Tagebuch, möchte man sagen, erfüllt das Bedürfnis nach Selbstvergegenwärtigung im Lichte einer höheren Instanz. Wie würde das, was einen den Tag über bewegt hat, von höherer Warte aus betrachtet? Diese höhereWarte muß nicht explizit im Tagebuch erscheinen, aber ohne sie gäbe es kein Tagebuch. Schrift wurde erfunden, um etwas mitzuteilen, und zwar nicht sich selbst. Nur scheinbar schreibt der Tagebuchschreiber für sich selbst, so wie der Betende nur scheinbar zu sich selbst spricht. Das sich bekennende Ich kann nicht zugleich das wägende und richtende sein, an das es immer appelliert. Das Tagebuch wie sein Pendant, das Gebet, wenden sich an einen unsichtbaren Rezipienten. Und wo der Glaube fehlt, kann das Tagebuch für das Gebet eintreten und es ersetzen. Darum fragt Thomas Mann, durch und durch protestantisch geprägt, wenn auch nicht gläubig im strengen Sinn, ob nicht «die gebethafte Mitteilung im Tagebuch» Schutz gewähre. Und darum nennt noch der dem Zeitgeist den Puls fühlende Rave- und Luhmann-Kenner Rainald Goetz sein Internet-Tagebuch
Abfall für alle
sein «tägliches Textgebet».
Succubus und Luzifer
Pietistischen Spuren folgt sogar, aber was heißt hier sogar?, wer in der DDR aufwuchs. Der 1970 in Ostberlin geborene Autor Jochen Schmidt hat in der Zeit, als er seine Proust-Lektüre in einen Blog stellte, protestantisch säuberlichüber die jeweils erfolgreich zurückgelegte Lesestrecke Buch geführt: jeden Tag zwanzig Seiten Proust, keine weniger, keine mehr, und jeden Tag den Kommentar dazu. Nur vor dem Proustlektürebericht erlaubt Schmidt sich noch ein kleines privates Tagebuch.
Jochen Schmidt ist, wie dieses Tagebuch verrät, von großem, ja granitfestem Fleiß, durch den sich eine zarte Ader des Manischen zieht. Als leichter Zwängler liebt Schmidt vor allem Listen. Wenn er in der Zeitung über verschiedene Zwangsformen liest, legt er gleich ein paar solcher Listen an: Die erste Liste zählt die Zwänge noch zwanglos auf, die zweite ordnet sie alphabetisch, die dritte nach Wortlänge, das sieht ordentlicher aus:
1. Zählzwang
2. Sammelzwang
3. Ordnungszwang
4. Wiederholungszwang.
Dabei hat Schmidt allerdings den
Psychosozialen Kontrollzwang
vergessen, was ihm eine erweiterte Liste erlaubt, die er gerade noch ein zweites Mal abtippen kann, bevor er los muß, nicht ohne sich davor die Hände zu waschen. Problem: Die beiden Seifenstücke sind gerade genau gleich groß, das kriegt er nie wieder so hin.
Andere Listen Schmidts gelten den Dingen, die ein Kind noch als Wunder empfunden hat:
Halbe Regenwürmer. Straßenschach. Balancieren. Weiße Rechtecke an Chausseebäumen. Seifenmagnete.
Eine weitere Liste gilt Wörtern, von denen Schmidt noch weiß, wann er ihnen zum ersten Mal begegnet ist: «Bestseller», «urst», «Rowdy», «Bastonade», «Striptease». Ja, beim «urst» hat man es wieder gemerkt: Der Autor ist ein Kind der DDR und ostdeutsch bis in die letzte Pore. In der DDR wäre er nach eigener Ahnung ein mittelmäßiger Mathematiker geworden; der Mauerfall war für ihn so etwas wie das scheuende Pferd der Kutsche, ohne das Swann nie die Cattleya im Ausschnitt Odettes zurechtgerückt hätte, mit allen bekannten Folgen.
Es muß aber nicht immer Proust sein! Zur Ablenkung liest Schmidt gern einmal Gustav Fischers
Landmaschinenkunde
aus den Zwanzigern und macht eine Mini-Liste über den Fachwortschatz, von Glockengöpel, Schwungkugelregler, Klauenkupplung und Ringschmierlager bis zum Pommritzer Rübenrodepflug und der Hederichspritze – bis er auf einmal, als wäre er der Arno’sche Schmidt, den Subtext erkennt: «Damit sich die Lage der Rührwelle zum Schlitz nicht verändert, wird der Stellschieber nicht geradlinig verschoben, sondern um die Rührwelle geschwenkt.» Aha! Und Schmidt ahnt, Herr Fischer habe sublimieren müssen und keine glückliche Ehe geführt.
Ist das noch Tagebuch?
Wieso kann ich mir den Unterschied zwischen «succubus» und «incubus» nicht merken?
Der humoristisch funkelnde und sehr zu empfehlende Proust-Blog von Jochen Schmidt, als Buch unter dem Titel
Schmidt liest Proust
erschienen, ist auch ein Beispiel dafür, wie dehnbar die Form des Tagebuchs ist.
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