Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
aktiver Selbstbeobachtung, er will sich lieber ruhig ertragen, «ohne voreilig zu sein, so leben wie man muß, nicht sich hündisch umlaufen». Es ist das Gegenprogramm zu dem Vorsatz, mit dem Gombrowicz sein berühmtes Tagebuch beginnen wird: «Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Donnerstag Ich.» Genau das will Kafka nicht. Aber wenn er anders nicht ins Schreiben kommt?
Einen Absatz später in der Passage, in der er über das Rätsel seiner Schreibhemmung grübelt, vergleicht Kafka sich mit japanischen Gauklern,
die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den empor gehaltenen Sohlen eines halb Liegenden und die nicht an der Wand lehnt, sondern nur in die Luft hinaufgeht. Ich kann es nicht, abgesehen davon, daß meiner Leiter nicht einmal jene Sohlen zur Verfügung stehn. Es ist das natürlich nicht alles, und eine solche Anfrage bringt mich noch nicht zum Reden. Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet. Und wenn ich dann einmal vor jenem Satz erscheinen würde, hervorgelockt von jenem Satze, so wie ich z.B. letzte Weihnachten gewesen bin und wo ich so weit war, daß ich mich nur noch gerade fassen konnte und wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig auf dem Boden stand und an der Wand. Aber was für ein Boden! was für eine Wand! Und doch fiel jene Leiter nicht, so drückten sie meine Füße an den Boden, so hoben sie meine Füße an die Wand.
Dieses Auf-der-Leiter-Stehen war sein angestrebter Zustand, wie Peter von Matt in einem bravourösen Essay dargelegt hat. Kafka lebte um des Schreibens willen; er lebte nicht um des Geschriebenen willen. Das sei vielleicht das Wichtigste, was man von diesem Autor wissen müsse.Wenn Kafka schrieb, wenn er eintrat in den Zustand des Schreibens, waren alle Fragen gelöst.
Das ist sicher richtig gesehen. Nur hat sich dieser Zustand der glücklichen Inspiration im Lauf der Jahre geändert. Bei der letzten Tagebucheintragung im Jahr 1923, ein Jahr vor Kafkas Tod, ist die Inspiration einem anderen Zustand gewichen. Sie ist ins Dämonische gekippt.
Immer ängstlicher im Niederschreiben. Es ist begreiflich. Jedes Wort, gewendet in der Hand der Geister – dieser Schwung der Hand ist ihre charakteristische Bewegung – wird zum Spieß, gekehrt gegen den Sprecher. Eine Bemerkung wie diese ganz besonders. Und so ins Unendliche. Der Trost wäre nur: es geschieht ob du willst oder nicht. Und was du willst, hilft nur unmerklich wenig. Mehr als Trost ist: Auch Du hast Waffen.
Welch ein Schlußwort für einen Autor, der die testamentarische Anordnung gab, sein Werk zu verbrennen, und von seinem weltumspannenden Nachruhm nichts ahnen konnte. «Auch Du hast Waffen» – gibt es etwas Ergreifenderes als diese Mischung aus Bescheidenheit und Stolz? Im Trost, der in diesem Bewußtsein liegt, in diesem «Auch Du hast Waffen», versteckt sich ein weiterer Sinn des Tagebuchs.
Kranke Eulen
«Von einer Last befreit, um eine Waffe beraubt.» So faßt ein Schriftsteller aus heutigen Tagen sein Gefühl zusammen, als er seinen letzten Tagebucheintrag macht. Der 1964 geborene Schriftsteller Helmut Krausser hatte sich das Tagebuch als streng befristetes Projekt vorgenommen; eine Auswahl daraus hat er unter dem nicht zuviel versprechenden Titel
Substanz
vorgelegt.
Wieder also, wie bei Kafka, das Tagebuch als Waffe. Eine ganze Waffenkammer, fast tausend Seiten stark, erschien im selben Jahr wie
Substanz;
wie es überhaupt in der letzten Dekade in Deutschland eine auffällige Häufung von publizierten Dichtertagebüchern gab – jedes auf seine Art bemerkenswert. Für Furore sorgte das tausendseitige Tagebuch des Fritz J. Raddatz, das die Jahre von 1982 bis 2000 umspannt. Die Kritikerin Elke Heidenreich las das Mammutwerk mit gemischten Gefühlen und ein wenig betreten; kein Wunder bei Raddatz’ Schwanken zwischen tiefen Minderwertigkeitsgefühlen und arrogantem Hochmut – «eine gefährlich explosive Mischung für alle, die da in die Nähe geraten». Überall sei Gift ausgelegt, man ersticke daran: «Das Gift der Überheblichkeit, der Mißgunst, des bösen Klatsches.»
Bei allem berechtigten Augenverdrehen über Raddatz’ Klatschsucht und Eitelkeit haben seine Tagebücher aber doch etwas Eindringliches. Eitelkeit? Geschenkt – da gibt es ohnehin ein starkes Gedränge am oberen Skalenrand. Aber wenn sich eine vor nichts zurückschreckende, auch
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