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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mischt sich ein grummelnder, grantelnder Unterton, der gut zu seiner ausgeprägten Knickrigkeit paßt, mit luzider Selbstironie – «Renate sagt, ich sähe wie eine kranke Eule aus. Ich
bin
eine kranke Eule.» Und wie Raddatz ist er von rücksichtsloser Ehrlichkeit auch dem «schäbigen Rest» gegenüber, als den Arno Schmidt das empirische Schriftsteller-Ich bezeichnet hatte.
    Was Raddatz betrifft, so hatte Kempowski ihn nach dessen Entlassung bei der
Zeit
sogar gefragt, ob er ihmGeld leihen solle! Heroisch, für diesen Geizer. Raddatz vermerkt es dankbar im Tagebuch und fügt die Beobachtung an:
    Leicht bizarr allerdings die Situation, daß da zwei Leute bei Tisch sitzen, die sich ganz unverhohlen erzählen, daß sie Tagebuch führen («ich notiere JEDEN EINZELNEN TAG»), also wissen, daß spätestens anderntags der eine über den anderen und der andere über den einen irgendwelche Notizen macht: Zeitweise kam es mir vor, als sprächen zwei Spiegel miteinander und ich spürte, wie es in mir zuckte: «Das muß ich aufschreiben.»
    Aber es fiel der Name Arno Schmidts. Er war der Pate für viele der ihm nachfolgenden Egozentriker und soll darum nicht übergangen werden. Auch er ist uns im Tagebuch überliefert, allerdings nicht in seinem eigenen, nur partiell publizierten, sondern in dem seiner Frau. Es ist ein Dokument des leise schnurrenden Schreckens. Doch bleiben wir noch einen Moment bei den Zeitgenossen der kranken Eule.

Es ist verboten, Herzen in den Fels zu ritzen!
    Ähnlich wie bei Kempowski, und doch verzwickt anders, liegt der Fall bei
Tabu I,
dem einschlägigen Kürzel des von 1989 bis 1991 reichenden – und damit ebenfalls die innerdeutsche Wende überspannenden – Tagebuchs des ein Jahr nach Kempowski verstorbenen Peter Rühmkorf, in dem manche den Pepys des 20. Jahrhunderts sehen. Der Lyriker Rühmkorf, mit Kempowski und Raddatz prekär befreundet – «Rühmkorf nimmt alles übel», schreibt der letztere über ihn –, ist der zarteste, fragilste, hypochondrischste und innerlich vielleicht eisigste der großen Diaristen. Politisch mäandert er, wo Kempowski nüchtern den Pfad hält; poetisch übertrifft er alle seine Altersgenossen. «Entweder Photosynthese oder Schlachthof – Es hätte nie über die Silberdisteln hinausgehen dürfen» – ein Tagebucheintrag, der die Gottfried-Benn-Nachfolge erkennen läßt, in die sich Rühmkorf ohne Anmaßung stellen darf. Ein großer Lyriker, der ein virtuoses Tagebuch hinterlassen hat, auch wenn er schon 1971 argwöhnt: «Wer Tagebuch führt, beginnt sich aufzugeben.» Später bezeichnet er sein Journal als «Merkhilfe – Gedächtnisstütze – Tränenkrüglein – Rotzlappen». Auch über die notwendige Sofortbenutzungdes Krügleins macht er sich Gedanken. «Wenn ich diese Notizen nur 5-6-7-8 Jahre liegenlasse», schrieb er über das
Tabu,
«hat sich das sausende
Es ist jetzt – Es ist heute – Es ist hier
wie unter der Hand zum beruhigten
Es-war-einmal
abgeklärt. Und bei alledem niemals wissen, was deine letzten Worte sind …» Eine kranke, aber zähe Eule auch er und wie alle andern nur auf eines erpicht: «und rappel-rappel-rappel immer vergnügt und komplimentenhungrig und möchte für ewig und drei Tage unentwegt geliebt, gelobt und bestätigt werden». Eine neugierige Eule übrigens auch, schreckt er doch nicht davor zurück, sich in Raddatz’ Wohnung ins Badezimmer zu schleichen und auf Zettelchen die Assemblage der Hautcremes zu notieren.
    Worauf aber läßt es blicken, wenn Rühmkorf beim Tod der Mutter nichts als ein paar Lyrismen zu Papier bringt? Nicht vielleicht doch auf ein neurotisch vereistes Herz? Welcher Kontrast jedenfalls zum herrlichen Georg Christoph Lichtenberg, wenn wir um zwei Jahrhunderte zurückspringen dürfen. Lichtenberg hält 1791 im Tagebuch fest:
    Ich bin um 4 Uhr auf. Der Erfurter Mohn blüht noch sehr schön. Matt in den Beinen. […] Meine ganze Erbschaft erhalten. 1 Tischtuch und 12 Servietten! vortreffliche Mutter deine Schuld war esnicht verklärter Engel. Ich gehe barfuß und im bloßen Hemd. Hitze sehr groß.
    Um die Uhr wieder auf unsere Zeit vorzudrehen: Dauerbeleidigt wegen mangelnden Ruhms sind sie allesamt, ob Raddatz, Kempowski oder Rühmkorf; selbst Martin Walser, hört man, leide darunter, daß er im Ausland weniger bekannt sei als Grass, der seit seinem Nobelpreis immerhin keinen Grund mehr zur Klage hat. Auch Helmut Krausser, Vertreter der mittleren Generation, hadert mit der noch immer ausbleibenden

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