Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
offiziellen Bestätigung des Genieverdachts. Krausser ist dabei nicht eitel, sondern sympathisch-querulantisch und scharfsinnig. Vor allem ist er ein Beobachter und Raconteur von Rang. Beim Literaturwettbewerb am Wörthersee schnappt er 1995 ein schönes Mißverständnis auf:
Das schönste Malentendu vom diesjährigen
Klagenfurz entstammt einem Verlegergespräch:
«Haben Sie auch einen Autor hier?»
«Nein, ich bin mit der Bahn da.»
Hätte Krausser den Bachmann-Preis gewonnen, hätte er vielleicht sogar das «z» zum «t» rückkorrigiert.
Wo immer er im Ausland unterwegs ist, hält Krausser die Ohren und Augen auf und entdeckt dabei mehr als der Alltagstourist. In Italien besichtigt er nördlich von Riminidas Modell «Minimundus», das die italienischen Sehenswürdigkeiten im Maßstab 1:50 nachbaut. Man kann mit der Schwebebahn darüberfahren, aber auch zwischen den Modellen herumtrotten wie Gulliver. Krausser bemerkt dabei, daß sich auf den Miniaturtreppen der Modell-Pallazi Eidechsen sonnen. Sie wirken drachengleich oder zumindest wie Alligatoren … In einem südfranzösischen Ockerbruch entdeckt er ein Piktogramm, das bedeutet: «Es ist verboten, Herzen in den Fels zu ritzen!» Als er durch die französische Stadt Salon fährt, die Heimatstadt des Nostradamus, berichtet er die Geschichte von dessen unglücklichem Sohn: Ein weit weniger begabter Prophet als sein Vater, unter dessen Last er litt, lag er mit allen Voraussagen daneben. Als dann auch noch die Stadt Pouzin, deren Brand er prophezeit hatte, partout nicht in Flammen aufging, zündete er sie kurzerhand selber an und wurde dafür hingerichtet.
Auch musikgeschichtlich lernt man bei Krausser dazu. Eine alte Dame erzählt bei einem Dinner von ihrem aufregendsten musikalischen Erlebnis: als ihr Igor Strawinsky nach einem Konzert die Tür aufgehalten und vor ihr einen Diener gemacht habe. Ein Gast fragt nach, wann das denn gewesen sei? Die Dame nennt das Jahr 1972. Als Strawinsky also schon längst unter der Erde lag. Der taktlose Zweifler fragt weiter: Woher sie wisse, daß es auch wirklich Strawinsky gewesen sei? Entrüstete Gegenfrage: Traueman ihr nicht zu, den großen Strawinsky zu erkennen? Ein kleines melancholisches Schweigen senkt sich über den Tisch. Bis die alte Dame im Tonfall der Verklärung seufzt: Strawinsky – das sei noch ein gepflegter Mensch gewesen … «Wißt ihr … er war damals bereits sieben Jahre tot – aber er hat überhaupt nicht gerochen.»
Großer Nödl
«Nödl entwirft & arbeitet einen neuen Tauchsieder. Eine wahrhaft göttliche Form», notiert Alice im Mai 1949 im Tagebuch. «Da steht er in seiner Wolkenkratzermäßigen Schlichtheit und Größe. Genial! Großer Nödl!»
Besagter Nödl wurde der in der Tat genialste und jedenfalls sprachmächtigste Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit, wobei er sich über diese Eingrenzung womöglich empfindlich gezeigt hätte – es gab, bei großer Konkurrenz, wohl nur wenige Autoren, die noch ehrpussliger waren als der von seinen Görlitzer Mitschülern «Allah» genannte Arno Schmidt. Das Tagebuch seiner Frau, der 1916 in Schlesien geborenen Gärtnerstochter Alice Murawski, die den Lehrling als Sekretärin der Greiff-Werke kennengelernt und 1937 geheiratet hatte, liest man mit ebensoviel Beklemmung, wenn sie Nödl über dengrünen Klee lobt, wie wenn sie verhalten klagt. Alice lebte ganz im Schatten und Dienste dieses Mannes, der aus dem Krieg so verändert zurückkam, daß sie ihn nicht wiedererkannte, und der seither ausschließlich und zunehmend selbstzerstörerisch für eines lebte, für seine Literatur. Alice wurde, nachdem er ihr verboten hatte zu arbeiten, seine Privatsekretärin. Sie bemühte sich, mit ihm standzuhalten, sie war seine erste Leserin, die sich freilich mit selbst hauchzarter Kritik zurückhalten mußte und auch beim Schachspiel besser nicht zweimal hintereinander gewann; sie tippte all seine Manuskripte ab, sie hatte den Haushalt zu versorgen (und wie ungern! – der Tag des ersten Staubsaugerkaufs war ihr ein
jour de gloire);
sie hatte ihren Mann über Anfälle von Impotenz zu trösten, ihn zum Kleiderkauf zu überreden und sich alle Gedanken an eigene Vergnügungen aus dem Kopf zu schlagen.
Denn ihr Nödl, der in Hundertstundenwochen immer tiefer in seinem Werk versinkt – und dem die deutsche Literatur einige ihrer schönsten Titel verdankt:
Seelandschaft mit Pocahontas, Kühe in Halbtrauer, Abend mit Goldrand, Zettel’s Traum, Der sanfte
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