Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
beteiligt.»
Wer immer Brecht als politischen Aufklärer gegen den zaudernden Reaktionär Thomas Mann ausspielt, wie es so lange Mode war, lasse sich diesen wenig bekannten Planauf der Zunge zergehen. Zweihunderttausend Berliner in fünf Tagen –
wenigstens,
da war Brecht generös –, vermutlich neben den Wehrmachtsleuten, dem Freikorps und den Stahlhelmern bevorzugt Industrielle, Junker, Großbürger, Bankiers, Journalisten der falschen Couleur – doch, das hätte auch dem Genossen Stalin gefallen. Was bald darauf in Berlin von den neuen Machthabern exekutiert wurde, blieb noch eine Weile hinter den Brechtschen Maßgaben zurück.
In der Sowjetunion war man schon etwas weiter, man hatte ja auch schon früh damit begonnen. Im selben Jahr, in dem Brecht dem devoten Freund seinen Fünftageplan vorlegt, erzählt in Paris ein ehemaliger Moskau-Korrespondent des
Corriere della Sera
dem Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler beim Tee von seinen Erfahrungen in den Tscheka-Gefängnissen. Zweimal war er dort eingesessen, einmal sechs Wochen lang. Zu essen gab es hundert Gramm Schwarzbrot und eine stinkende Fischsuppe. Jeden Samstag wurden im Keller unter seiner Zelle Gefangene erschossen, was so klang, als ob Türen laut zugeschlagen würden. Länger als zwei Jahre habe es kein bolschewistischer Henker ausgehalten, dann seien sie alle verrückt geworden. «Die Sanatorien an der Krimküste seien voll von wahnsinnig gewordenen Henkern gewesen.»
Nicht zuletzt durch den Einfluß Brechts war Benjamin schon im Winter 1926 mit dem Regisseur Bernhard Reichins Land der Hoffnung nach Moskau gereist. Das Tagebuch, das er über diese Erkundung des Sowjetstaats führt, zeigt einen weiteren Zug, der beim Verfasser des
Ursprung des Deutschen Trauerspiels
sonst nicht heraussticht: Humor. Benjamin ist, wie so oft, unglücklich verliebt, ausgerechnet in Reichs Lebensgefährtin, die sie in Moskau besuchen, die lettische Schauspielerin Asja Lacis, die ihn am ausgestreckten Arm verhungern läßt. Er hat aber noch andere Sorgen. Er schläft gerne lang und wacht morgens nicht von alleine auf. Die Sorge war, wie das kommunistisch-dienstunwillige Personal in ihrem Hotel den Weckdienst gestalten würde.
Der Mann auf die Frage, ob wir geweckt werden könnten: «Wenn wir daran denken, dann werden wir wecken. Wenn wir aber nicht daran denken, dann werden wir nicht wecken. Eigentlich, meistens denken wir ja daran, dann wecken wir eben. Aber gewiß, wir vergessen es auch manchmal, wenn wir nicht daran denken. Dann wecken wir nicht. Verpflichtet sind wir ja nicht, aber wenn es uns zur rechten Zeit einfällt, dann tun wir es doch. Wann wollen sie denn geweckt sein? – Um sieben. Dann wollen wir das aufschreiben. Sie sehen ich tue den Zettel dahin, er wird ihn doch finden? Natürlich, wenn er ihn nicht findet, wird er nicht wecken.Aber meistens wecken wir ja.» Am Ende wurden wir natürlich dann nicht geweckt und man erklärte: «Sie waren ja wach, was sollten wir da noch wecken.»
Das ist Benjamin zwischen Beckett und Karl Valentin. Oder auch zwischen Valentin und Franz Kafka – der erwähnten anderen großen Ausnahme.
Auch du hast Waffen!
Auch Kafkas Tagebücher sind eine literarische Form für sich und gehören genauso zum Werk wie die Schreibhefte, in denen seine Fragmente entstehen. Es ist unmöglich, einen Unterschied der Prosa zu entdecken. Kafka kennt beim Schreiben keinen hohen oder niedrigen Stil, er hat immer die gleiche Stimme, und ein Traumprotokoll klingt nicht fremder und rätselhafter als eine kurze Erzählung. Besonders kryptisch wird es, wenn Kafka im Tagebuch den Schreibprozeß selbst umkreist, der zu seiner Verbitterung manchmal ins Stocken gerät.
Hier eine Passage aus dem Jahr 1910, als er sich nach einer längeren Pause wieder dem Tagebuch offenbart.
Endlich nach fünf Monaten meines Lebens, in denen ich nichts schreiben konnte womit ich zufrieden gewesen wäre und die mir keine Macht ersetzen wird, trotzdem alle dazu verpflichtet wären, komme ich auf den Einfall wieder einmal mich anzusprechen. Darauf antwortete ich noch immer, wenn ich mich wirklich fragte, hier war noch immer etwas aus mir herauszuschlagen, aus diesem Strohhaufen, der ich seit fünf Monaten bin und dessen Schicksal es scheint, im Sommer angezündet zu werden und zu verbrennen, rascher als der Zuschauer mit den Augen blinzelt.
Dazu immerhin war das Tagebuch gut, es brachte den Schreibprozeß wieder in Gang. Eigentlich hatte Kafka einen Haß gegenüber
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