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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sich selbst nicht schonende Ehrlichkeit zu ihr gesellt und ein für fremde Eitelkeiten entsprechend feinjustierter Blick, entfaltet sich ein Sittenbild der
literari,
das man nur grausig nennen kann. All die hohen Namen und literarischen Würdenträger, die mit Raddatz auf Du und Du waren – alles sind es Lemuren des «Ich, Ich, Ich». Bis auf den Maler Paul Wunderlich ist keiner mit anderen als jenen drei Themen befaßt. Und alle nutzen sie ihn aus und lassen sich von ihm einladen, ohne es ihm je zu danken.
    31.10.1983
    Abendessen mit dem – wiederversöhnten – Fichte, obwohl ich manchmal finde, mit ihm verkracht zu sein, ist weniger anstrengend. Er ist so zunehmend tickhaft, daß eigentlich ein ernsthaftes Gespräch gar nicht mehr möglich ist, seine schrillen Töne sind noch schriller – und damit auch weniger amüsant – geworden, und die offenbar ernst gemeinte Beteuerung, daß ALLE – von Inge Feltrinelli bis zum armen Michael Krüger, auch Augstein, auch die Gräfin – OSTAGENTEN seien, alle im Solde Moskaus:also was soll man dazu sagen. Ich versuchte, mich nicht allzu ernst auf das einzulassen und mich in (zu) teuren Champagner zu flüchten; eine Einladung übrigens, die er – nicht sehr nett – quittierte mit einem «Na, das zahlt ja doch der Bucerius» (was nicht stimmt). Schlimm war vor allem das Ende des Abends – als ich nämlich, möglichst casual, von dem demnächst von mir erscheinenden Prosabuch sprach (die Rowohlt-Kataloge sind ja raus, es wissen nun ohnehin alle Leute), wurde sein Gesicht aschfahl, häßlich vor Wut, er konnte nur noch wütenden Unsinn wie «Das ist zu früh» hervorstoßen (was ja bei einem 52jährigen wahrlich nicht stimmt, eher «zu spät»). Des Rätsels Lösung ist wohl, daß ER mich literarisch «verarbeiten» wollte, Gott behüte – und nun ist ihm das Thema vom Opfer selbst gestohlen worden.
    So mit Fichte, und mit Grass ist es nicht viel besser. Als Gast bei ihm kommt Raddatz zu dem ernüchternden Schluß:
    Ich bin das Trampolin, für alles und alles. Also: refaire sa vie? Ich könnt ja auch in Portugal – oder sonstwo – leben, könnte (sollte?) mein Leben umstellen. Nur: alleine geht das nicht. Ginge es ÜBERHAUPT, egal mit wem?
    Im Grunde, glaubt Raddatz, im Grunde gehöre er, jüdisch und homosexuell, einfach nicht dazu. Champagnergelage und Porschetouren und Selbstlob-Orgien sind die traurigen Versuche, das Gefühl des ewigen Außenseitertums zu verdecken.
    Dennoch: Wer etwas über Deutschland in der Nachwendezeit erfahren will, lese lieber diese Tagebücher als Romane. Auch wenn sie sich in der Lemurensphäre der Kulturzirkel bewegen, werfen sie genügend Seitenblicke auf die wirkliche Welt. In der Szene, in der Raddatz nach dem Mauerfall losgeht und jedem Trabi eine Tafel Schokolade an die Windschutzscheibe steckt, nur um sich selbst zu fragen, ob das «Glasperlen für die Neger» seien – doch, er schreibt Neger –, allein in dieser Vignette ist das erfaßt, was zwischen Ost und West an Mißmut-Potential bis heute vor sich hin brodelt und zischt.
    Ein anderer Fall, und ebenso kapital, ist das Tagebuch Walter Kempowskis, der 1948 bei einem Besuch in Rostock vom sowjetischen NKWD wegen Spionage verhaftet wurde und im Zuchthaus Bautzen acht Jahre lang einsaß. In den ersten Verhören hatte er seine Mutter verraten, worüber er zeit seines Lebens nicht hinwegkam. Als zunehmend erfolgreichem Romancier und unermüdlichem Echolot-Chronisten blieb ihm – seine zweite große Wunde – die Anerkennung der Literaturkritik über Jahrzehnte verwehrt, weil er keine avantgardistischen Mätzchenmachte und als spießig galt, nur weil er Spießigkeit darstellte, und weil er als DDR-Geschädigter politisch nicht im Mainstream mitschwamm. So wie Raddatz darunter litt, daß sein Roman
Kuhauge
ein weniger schallendes Echo hervorrief, als er sich erhofft hatte (außer in Frankreich, wie zu betonen er nicht müde wurde), so litt Kempowski bis zum Schluß daran, daß er nicht den Büchnerpreis bekam – was der Deutschen Akademie in der Tat nicht das beste Zeugnis ausstellt. Erst im Jahr 2007, als der schwer Erkrankte schon nicht mehr zur Zeremonie erscheinen konnte, kostete er die Befriedigung, vom deutschen Bundespräsidenten – korrekt: Köhler – als Volksdichter geehrt zu werden – der glücklichste Tag seines Lebens, wie er gestand. Auch das Feuilleton war inzwischen umgeschwenkt und goß endlich das Salböl des Lobs auf sein Haupt.
    In Kempowskis Tagebüchern

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