Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Alt und bekannt war die kakanische Wurstigkeit mit ihrem deutlichen Stich ins Sadistische.
[1915] 6.10. […] Rabic, jetzt Hauptmann Luftschiffer, war in Serbien, geht jetzt nach Hamburg. Geschichten aus dem Krieg, unvergeßlich in ihrer äußern, innern Wahrheit. – Nur Schlagworte:Die Erschießung der Geiseln (weil zu viel). – Der Oberstltnt. […] Zum Montenegr. Gefangenen: Bring mir ein Weib – sonst laß ich dich erschießen. […] Der Hauptmann der Flieger, der auf Befehl des Stabs (obwohl er Einwendungen erheben könnte) 3 oder 4 Flieger in Nebel und Sturm, in den sichern Untergang aufsteigen läßt, – und das Eiserne Kreuz bekommt. – Photographien, darunter die Deserteure, die erschossen werden. Warens wirklich welche? – Es kommt schon vor, dass die Untersuchung nicht ganz genau geführt wird – «Man statuirt gern Exempel.» – Die aneinander gefesselten Serben am Abgrund hin, einer den andern, gestürzten mitschleppend. – Graun über Graun, Unrecht über Unrecht; Wahnsinn über Wahnsinn!
Wir waren, schrieb später der Kriegsfreiwillige Ernst Jünger, «zu einem großen, begeisterten Körper zusammengeschmolzen». Hatte er dabei an diese aneinandergefesselten Serben gedacht?
Schnitzler blieb nüchtern im Rausch der Stahlgewitter. Wenn er bei Jünger vom Krieg gelesen hätte, der das «Große, Starke, Feierliche» bringen mußte, dem Krieg als einem fröhlichen Schützengefecht «auf blumigen, blutbetauten Wiesen», hätte es ihn geschüttelt.
Wer war aber nun schuld an dem ganzen Grauen?
[1916] 21.10. […] Über die Schuldfrage in diesem Krieg. Rußland und England. Der Hass gegen Deutschland, besonders den Kaiser, der durch allerlei Taktlosigkeiten und Schwertschlägereien früherer Zeit nicht ohne Schuld. Aber Blödsinn zu sagen, dass er den Krieg wollte. Ich erwähne, dass der Kaiser in falscher Forschheit dem König Eduard von England in gemütlichem Zusammensein auf die unmöglichsten Körpertheile klopfte, was Eduard zur Verzweiflung brachte. Komisch zu denken, dass auch das zu den Kriegsursachen gehörte.
Jeanne d’Arc des Grenzwalds
Anders als Schnitzler, der nicht eingezogen wurde und den Ersten Weltkrieg in Wien erlebte, war sein Landsmann Heimito von Doderer, wie erwähnt, als Offizier in russische Gefangenschaft geraten und nach Sibirien verbracht worden. Wen er dort getroffen hatte, war der Engel von Sibirien, die in St. Petersburg in schwedischer Diplomatenfamilie geborene Krankenschwester Elsa Brändström, die gefangene Soldaten hinter der Ostfront betreute. Ihre Erinnerungen
Unter Kriegsgefangenen in Rußland und Sibirien1914–1920
sind kein Tagebuch im strengen Sinn, stützen sich aber offenkundig auf tägliche Notate.
Brändström versorgte vor allem Deutsche und Österreicher, doch die Nationalität der Leidenden war für sie so zweitrangig wie der Ort, an dem sie arbeitete: «Sie pflegte Kranke in Fabriken, Zirkusgebäuden und Gefängnissen», schreibt Peter Maxwill, «kümmerte sich um Todgeweihte in Scheunen, Schulhäusern, Kasernen und Baracken.» Brändström blieb ganze sechs Jahre lang im Freiwilligendienst und kämpfte um das Leben jedes einzelnen Gefangenen – mit insgesamt 700.000 hatte sie während ihrer Irrfahrt durch das Russische Reich Kontakt. Immer wieder wurde sie Zeugin von Szenen wie dieser:
Im Februar 1915 kamen zwei Waggons in Samara an … Jeder vermutete mit Recht Lebensmittel darin, aber sie enthielten 65 Türken, von denen noch acht lebten. Man leitete die Waggons auf ein Gleis vor der Stadt, hob dort eine Grube aus, löste die angefrorenen Leichen mit Hacke und Spaten vom Boden und warf sie in die Grube.
Das Schlimmste in den Lagern waren dabei noch nicht einmal die körperlichen Strapazen.
Wie schwer auch die äußeren Verhältnisse auf dem Einzelnen lasteten, … so wurden diese Leiden dochoft weit von dem seelischen Druck der Gefangenschaft übertroffen … Die Gefangenenpsychose griff mehr und mehr um sich. Eine nagende Unruhe, ein verzweifeltes Gefühl der Leere, Mißmut und Abscheu gegen alles nahmen überhand … alles ging in Wahnsinn unter – wild und unbändig, oder scheu und still.
Alles ging in Wahnsinn unter – Schnitzler hatte es von Anfang an kommen sehen. Das Weltfest des Todes, wie es im
Zauberberg
hieß, dessen Autor sich später dann doch noch besann, war ein teuflisches Fest. So glaubte es allzu wörtlich auch die russische Bauernschaft. Elsa Brändström erlebt folgende Szene in Kiew:
Da rollt ein langer
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