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Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf

Titel: Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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man sich nicht von der Augusteuphorie benebeln ließ.
    Am Anfang ist Schnitzler noch ganz auf der Seite Kafkas. Was dort die Schwimmschule war, ist bei ihm ein lästiger Schreibauftrag.
    28.6. […] Nm. telephonirt uns Julius dass Franz Ferdinand und Gemahlin in Sarajevo erschossen wurden; näheres dann die Hofrätin und Saiten. – Schöner Sommertag. […] Praeoccupiert durch eine Aufforderung (Stern’s) zur Festnummer des Roten Kreuzes; – allerlei Notizen zu einer Antwort, die ich doch nicht absenden werde. […] Die Ermordung F.F.s, nach der ersten Erschütterung wirkte nicht mehr stark nach. Seine ungeheure Unbeliebtheit.
    Einen Monat später heißt es knapp:
    25.7. […] Der oesterr.serb. Krieg in Aussicht.
    Was machte Österreichs Außenminister Berchtold, der Hauptbeteiligte an der eine Woche darauf erfolgenden Kriegserklärung? Er ist, wie wir aus dem Tagebuch des immer gut unterrichteten Grafen Kessler erfahren, anderweitig beschäftigt.
    Am 31. Juli 1914, in Wien, als alles auf die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum wartet, hat er [Anton Kuh] Berchtold im Wurstl-Prater gesehen an einem Karussell, das als Treffplatz für Strichjungens bekannt war. Ein bildhübscher Junge in weißen Hosen und weißem Pullover fuhr auf dem Karussell und zwinkerte mit einem Auge einemeleganten Herrn zu, der ihn immerfort anschaute. Als das Karussell Pause machte, stieg der Junge ab und ging auf den Herrn zu, der ihn begrüßte und mitnahm. Der Herr war Berchtold. Im Augenblick, wo die beiden zusammen fortgingen, kamen unter großem Geschrei die Zeitungsjungen mit Extrablättern gelaufen: «Serbische Antwort auf das Ultimatum. Krieg mit Serbien, österreichischer Einmarsch in Serbien!» Der Beginn des Weltkrieges, den Berchtold herbeigeführt hatte.
    Was soll man sagen? Das Hemd des eigenen Vergnügens war dem Menschen schon immer näher als der Rock der friedlichen Koexistenz. Doch folgen wir weiter den Aufzeichnungen Schnitzlers, bei dem sich die dramatischen Nachrichten kreuzen und überschlagen.
    1.8. […] Mit Leo Pontresina – Banken geschlossen. Kein Geld auf Creditbriefe. Allgemeiner Wahnsinn. Schweiz in Kriegszustand. […] Brief der Hofr. Zuckerkandl; u.a., dass Oesterreich heuer für den liter. Nobelpreis ausersehen. – und man daran denke ihn zwischen mir und Peter Altenberg zu theilen, was Olga noch viel aergerlicher empfindet als ich – (nicht aus finanz. Ursachen – sondern weil der lit. Nobelpreis noch
nie
getheilt worden).
    Drei Tage später der prophetische Eintrag:
    4.8. […] Im Hotel Nachr. von der Kriegserklärung Englands an Deutschland! – Der Weltkrieg. Der Weltruin. Ungeheuere und ungeheuerliche Nachrichten. –
    Schnitzler dürfte einer der ersten gewesen sein, die den Weltruin so klar vorhersahen. Man schaut besser nicht nach München, wo Thomas Mann seinen Bruder- und Franzosenhaß in die
Betrachtungen eines Unpolitischen
leitet, in denen dem Krieg und seiner reinigenden Kraft viel Gutes abgewonnen wird. Schnitzler ist Arzt, und er weiß, was eine Phrase ist und was eine Notoperation.
    13.10. […] Sah Otto Zuckerkandl operiren; an zwei Verwundeten; eine furchtbare Kieferverletzung; dann eine Kugel im Becken; – der wäre beinah verblutet; Unterbindung der Iliaca; Rettung. Hier ist das wesentliche des Krieges. Alles andre ließe sich wegdenken – Diplomatie – Weltgeschichte – Ruhm – Begeisterung – sogar der Tod. Nur das Leid ist das wesentliche. Und ich sehe den millionsten Theil eines millionstels.
    Eine Erkenntnis, die auch dem Schopenhauerianer Thomas Mann angestanden hätte.
    Ein halbes Jahr später kehren die ersten Soldaten von der Front zurück. Was Schnitzler von ihnen erfährt, übertrifft noch, was er sich ausgemalt hatte.
    [1915] 2.3. […] Paulsen kam, wieder beurlaubt, offenbar traumat. Neurose; allmälig begann er vom Krieg zu erzählen, – von dem Grauen der Schützengräben; dem Schrecken des Stellungskampfs. Sein Tagewerk: die Granaten zu erwarten und Abends 4–6 Kameraden begraben. Seit 3 Monaten. Vorher die offenen Schlachten tausendmal besser. Niemand sehnt sich zurück. Wers sagt ist ein Lügner. Endlich war er verschüttet, bewußtlos, zurückgeschickt, wieder einberufen und wieder zurückgeschickt. – Die zwei von der eignen Artillerie erschossenen. P. telephoniert an den Batteriechef. Der zurück: Ja – wir mußten uns erst einschießen – (Die Feinde sind nur zehn Meter voneinander eingegraben.)
    Der Grabenkrieg war historisch neu.

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