Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Reichstagsbrand eine Kompromißlösung zweier Flügel der Nazi-Partei. Für Hitler war er weniger riskant als ein simuliertes Attentat; und er war immer noch gut genug für die Bartholomäusnacht.
Auch über eine andere Blutnacht im Jahr darauf erfährt man durch Kesslers Tagebuch mehr, als in den Zeitungen zu lesen war. Es ist Brüning, der ehemalige Reichskanzler, der ihn in Paris über die Hintergründe des sogenannten Röhm-Putsches aufklärt, bei dem SS-Einheiten am 30. Juni 1934 die gesamte SA-Führung liquidiert hatten. Dämonisch sei dabei die Rolle Goebbels gewesen, dessen diabolische Klugheit Brüning schon damals erkennt.
Goebbels habe die telegraphischen Gespräche Görings mit Hitler abgehört, in denen Göring zur ‹Exekution› Röhms und seiner Freunde aufreizte. Als er gemerkt habe, daß die Sache ernst werde und er selbst gefährdet sei, habe er sich schnell entschlossen in ein Flugzeug gesetzt, Hitler aufgesucht, Göring in seiner Schilderung des ‹Komplotts› übertrumpft und dann mit Hitler zusammen das Blutbad in München geleitet. Erst nachträglich, nachdem Röhm und Heines schon erschossen waren, sei ein ermordeter nackter Junge in ihr Zimmer geschafft worden. (Wahrscheinlich Goebbelsscher Propagandatrick.)
Über Hitler selbst weiß Brüning, er sei bauernschlau, gerissen und, wie nur schwache Menschen, grausam. Die Ermordung mit ihm befreundeter Personen lasse er sich immer «abringen». Er wühle dann in seinem Haar wieein Wagnerscher Bühnenheld, stelle sich verzweifelt, «das
kann
ich doch nicht zulassen», und «erlaube» dann, was er sich bereits vor acht Tagen vorgenommen. In der Reichskanzlei seien vor seinem Schlafzimmer, dem alten Zimmer Bismarcks, noch elf weitere Zimmer reserviert. Im ersten schlafe sein Adjutant Brückner, die anderen zehn seien von seiner persönlichen Leibgarde besetzt, «große stramme Jungen», die keinen durchließen. Trotzdem wage Hitler sich nachts nicht weiter als bis ins dritte Zimmer. Er habe nachts schreckliche Angstzustände. Dann schreie er nach Brückner. Dieser gehe aber gelegentlich hinüber zum ‹Kaiserhof› ein Glas Pilsener trinken. Dann brülle Hitler nach ihm, schnauze die Leibgarde-Leute an, warum sie Brückner fortgelassen hätten? Einmal habe Hitler wieder nach ihm geschickt, aber Brückner habe sich nicht beim Bier stören lassen, sondern dem Mann der Leibgarde nur gesagt:
«Mensch, hast du denn
noch
nicht gemerkt, daß der Führer verrückt ist?»
Als Szene in einem nach 1945 geschriebenen Roman fände man das wohlfeil, ebenso wie die Beschreibung Görings als eines morphiumsüchtigen Massenmörders. Das Wort fällt aber im Juli 1935.
Schon zwei Jahre zuvor hatte Kessler mit Hermann Keyserling über den ängstlichen Führer gesprochen.Keyserling hatte Hitlers Handschrift und Physiognomie genau studiert und darin einen ausgesprochenen Selbstmördertyp erkannt: jemand, der den Tod suche und damit einen Grundzug des deutschen Volkes verkörpere, das seit der Nibelungennot immer in den Tod verliebt gewesen sei. – Auch kein schlechter Physiognom, Graphologe oder kurzweg Prophet.
Zu dieser Zeit glaubte Kessler in Paris noch für einen Moment an die Möglichkeit seiner Heimkehr. Dann erreicht ihn die Warnung eines Freundes, der aus SA-Kreisen erfahren hat, in Deutschland sei Kessler von sofortiger «Schutzhaft» bedroht. Langsam begreift der Graf, wie Thomas Mann in der Schweiz: Es gibt kein Zurück in die Heimat mehr. Ab jetzt ist das Leben Exil.
Und die im Reich Gefangenen? Kessler schreibt am 1. April 1933 in Paris:
Sonnabend. Der abscheuliche Juden-Boykott im Reich. Dieser verbrecherische Wahnsinn hat alles vernichtet, was in vierzehn Jahren an Vertrauen und Ansehen für Deutschland wiedergewonnen worden war.
Sonntagsausflug verboten
Es gibt eine historische Situation, in der dem Tagebuch eine besondere Rolle zuwächst. In Zeiten des Terrors und der Diktatur ist nichts so gefährlich und nichts so unbedingt notwendig wie das Tagebuch. Schon Ernst Jünger hatte in
Strahlungen
geschrieben, im totalen Staat sei das Tagebuch das letzte mögliche Gespräch. Mitunter verhilft es sogar zu später Gerechtigkeit. Wie Hocke überliefert, diente ein verstecktes Miniaturtagebuch als Material zur Anklage gegen den früheren Kommandanten des Konzentrationslagers Fuhlsbüttel bei Hamburg. Der Lübecker Journalist deutsch-jüdischer Herkunft Fritz Solmitz war 1933 in diesem Lager nach grausamen Mißhandlungen angeblich durch
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