Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Zug in die Station, und aus den aufgeschobenen Türen springen die Kriegsgefangenen hinter den Posten herunter. Bauern und Bäuerinnen gehen rund um die Gefangenen herum, sie flüstern und gaffen und kommen näher. Zum ersten Mal sehen sie Gefangene. Aus der Zeitung hat man ihnen die Beschreibung dieser gefährlichen ‹Germanskis› vorgelesen … Plötzlich faßt ein Bauer einen kühnen Entschluß: Vorsichtig lüftet er die Mütze eines Gefangenen und starrt, alle starren – es ist kein Horn an der Stirn, wie man von den Deutschen behauptet hat.
Brändström reiste unermüdlich weiter durch das Russische Reich, als die meisten anderen Freiwilligen in den Armeelazaretten schon ihren Dienst quittiert hatten. Erst ab 1916 entspannte sich die Lage etwas. Aber auch das Ende des Krieges bedeutete nicht, daß der Schrecken vorüber war. Die Revolution war ausgebrochen, die Bolschewisten eroberten immer größere Landstriche, es herrschte blutiger Bürgerkrieg, zwischen dessen Fronten Elsa Brändström fast ums Leben kam.
Es ist der Moment, in dem sich ihr Weg mit dem des Mannes kreuzt, der in Sibirien zum Schriftsteller geworden war. Auch Doderer geriet auf seinem Heimweg aus der Gefangenschaft in die Wirren des Bürgerkriegs. In Samara mußte er umkehren und wieder nach Sibirien zurück. Die Weißen flohen vor der Roten Armee, die österreichischen Gefangenen wurden mitgeschleppt und umquartiert. Das typhusverseuchte Lager, in das Doderer zuletzt kam, wurde vom Roten Kreuz und Elsa Brändström betreut.
Auch sie kam erst 1920 aus Rußland wieder zurück nach Schweden. Durch die medizinische Grundversorgung, die sie bei den Behörden durchgesetzt hatte, sank die Sterblichkeit in den Lagern von 80 auf knapp 20 Prozent. Tausende, wenn nicht Zehntausende Gefangene verdankten ihr Leben der schwedischen Samariterin. Einer von ihnen war der Maler und Grafiker Erwin Lang, ein persönlicher Freund Doderers.
Nach ihren 1922 publizierten Erinnerungen wurde Brändström berühmt und fünfmal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. 1933 erhielt sie ein Telegramm von einem ehemaligen Gefreiten und Meldegänger, der 1918 in Flandern von Senfgas getroffen worden und infolge einer Kriegshysterie vorübergehend erblindet war. Inzwischen erfreute er sich wieder besten Augenlichts und war Reichskanzler. Adolf Hitler bat den Engel von Sibirien um ein Treffen.
Frau Brändström verzichtete. Sie übersiedelte in die Vereinigten Staaten, kümmerte sich mit gewohnter Energie um Flüchtlinge, beteiligte sich an der Gründung der CARE-Organisation, die durch den Telegramm-Verfasser notwendig geworden war, und starb 1948 in Cambridge an Knochenkrebs.
Unter den vielen Denkmälern, die seither für sie erbaut wurden, stand eines auch in dem kleinen Park, auf den Doderer blickte, wenn er aus seinem Fenster sah. In seinem letzten, Fragment gebliebenen Roman
Der Grenzwald
werden wir Zeuge, wie dieses Denkmal der «Jeanne d’Arc von Sibirien», wie er sie nennt, gerade eben gegenüber dem Hause, «darin diese Berichte jetzt geschrieben werden», enthüllt wird.
Ein noch bedeutenderes Denkmal setzte ihr Doderer in seinem
Grenzwald
selbst. Am Ende seines Schriftstellerlebens kommt er auf dessen Anfänge und seine sibirischeGefangenschaft zurück. Die Ermordung ungarischer Offiziere, in die seine Hauptfigur verwickelt ist, kann zwar auch jene Jeanne d’Arc nicht verhindern. Aber sie riskiert ihr Leben bei dem Versuch. «Mich können Sie erschießen», läßt Doderer sie ausrufen, «die Stimme des Schwedischen Volkes bringen Sie nicht zum Schweigen.»
Strahlende Gegenfigur in diesem dunklen Kosmos – Elsa Brändströms Überleben wäre gesichert, auch wenn alle andern Denkmäler verwitterten.
Die Fackel im Fenster des Reichstags
Wäre auch das ein Fall für John W. Dunne? 1924 träumte Arthur Schnitzler, daß er mit Stefan Zweig in einem Wiener Lokal vor einer «Hakenkreuzergesellschaft» fliehen muß. Sie setzen ihnen nach, aber die Flucht gelingt. Schnitzlers Freund Stefan Zweig wird später vor den Hakenkreuzlern bis nach Brasilien fliehen.
Für das, was sich im nächsten Jahrzehnt unter dem Zeichen des Hakenkreuzes verdichten wird, finden sich in Schnitzlers Tagebuch die Anzeichen schon früh. Sein Theaterstück
Professor Bernhardi,
in Österreich verboten, weil es Intrigen des Klerus gegen einen jüdischen Arztbehandelt, wird 1912 in Berlin uraufgeführt. Schnitzler hört später, wie das Stück im Publikum kommentiert worden
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