Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
war:
Hinter dem Redner saßen 2 Damen und äußerten: Das müssen ja schaudervolle Zustände in Österreich sein. Da drehte sich Redner um und antwortete: «Die Zustände in Österreich sind ganz gute aber der Jude hat frech gelogen.» «(Großer Beifall –)»
1914 schreibt Schnitzler über die «Boycottierung der wenigen jüdischen Assistenten» an der medizinischen Fakultät. Die Zeitungen schwiegen darüber. Später hört man, in die Typhus-Spitäler würden nur die jüdischen Ärzte geschickt. Und der Krieg macht die Sache nicht besser. «Schon wieder ein Aristokrat gefallen», ruft eine Generalsgattin beim Lesen der Verlustlisten. «Es werden bald nur mehr Juden übrig sein –». Wogegen man indessen schon Maßnahmen erwägt:
Eine Dame im Cafe Heinrichshof – erzählt, sie habe beim Labedienst den jüdischen Soldaten natürlich nichts gegeben die sollten überhaupt in der Front ganz vorn stehen um erschossen zu werden; – Erbitterung – sie wird sogar verhaftet – am Tag drauf – auf Intervention des Erzherzog Salvator frei gelassen! – Ist dieses Land zu retten?
Der grämliche große Autor, der nach dem Ersten Weltkrieg als unpatriotisch und
démodé
gilt und einer Zeit des schwindenden Ruhms entgegensieht, stirbt rechtzeitig, um den «Anschluß» und alles, was ihm folgte, nicht mehr mitzuerleben.
Zwei Monate nach Schnitzlers Tod im Oktober 1931 hört Harry Graf von Kessler im Rundfunk die Rede Brünings zur neuen Notverordnung gegen Hitler. Über jenen Kriegshysteriker, wie über den Aufstieg des Dritten Reichs, erfährt man nirgends so viel unbekannte Details wie aus dem Tagebuch des Mannes, den in Berlin auch Virginia und Leonard Woolf besucht hatten. Wie Schnitzler kennt Graf von Kessler alle Welt, aber als weitgereister Diplomat hat er zusätzlich Kontakte in die Machtzirkel und hohen Kreise der Politik. Kesslers Tagebücher sind eine unerhört reiche historische Quelle und ein Muster von Selbstzurücknahme und Takt. Der Graf, den man weithin für einen natürlichen Sohn Wilhelms I. hielt, spielt sich nie in den Vordergrund und hält nur gewissenhaft fest, was ihm die jeweiligen Gesprächspartner zutragen. Elisabeth Förster-Nietzsche schwärmt ihm von Hitlers glühenden Augen vor, Brüning weiß ganz anderes. Der Leser dieser Tagebücher wird immer wieder an der Schaurampe der Geschichte vorbei hinter die Kulissen geführt.
Berlin, 27. Februar 1933. Montag
Ein historischer Tag ersten Ranges. Das geplante Attentat hat heute stattgefunden, aber nicht auf Hitler, sondern auf das Reichstagsgebäude.
Wie das? Was kann der Graf damit meinen – der Reichstagsbrand ersetzt ein Attentat auf Hitler? Der Eintrag aus der Woche zuvor gibt die Erklärung. Kessler erfährt von Wieland Herzfelde, der ihn dringend zu sich bittet,
daß nach unbezweifelbaren Informationen die Nazis ein gestelltes Attentat auf Hitler planten, das das Signal zu einem allgemeinen Blutbad geben solle. Seine Informationen stammten aus der SA in Dortmund und aus einem abgehörten Gespräch zwischen Hitler selbst und Röhm.
Am nächsten Tag verstärken sich die Gerüchte. Hitler selbst könne es nicht mehr auf halten, seine Lage gleiche der eines Dompteurs, im Käfig mit zehn hungrigen Löwen eingesperrt: Wenn er ihnen kein Blut biete, werde er selbst von ihnen zerfleischt; Hitler zittere und gehe nur noch von zwölf schweren Jungen beschirmt, auch Göring sei ihm feindlich gesinnt.
Und eine Woche später – voilà, ein gelegen kommender Brand.
Berlin, 28. Februar 1933. Dienstag
Beim Reichstagsbrand ist als Brandstifter ein armer Hascher, ein angeblicher holländischer Kommunist, Marinus van der Lubbe, festgenommen worden und hat prompt ausgesagt, er sei von kommunistischen Abgeordneten zu der Tat angestiftet worden; auch mit der SPD habe er in Verbindung gestanden. Dieser etwa Zwanzigjährige soll an mehr als dreißig Stellen im Reichstag Brandmaterial verteilt und angesteckt haben, ohne daß seine Anwesenheit oder Tätigkeit oder die Hereinschaffung dieses massenhaften Materials von irgend jemandem bemerkt worden sei. Schließlich ist er der Schupo direkt in die Arme gelaufen, nachdem er vorsorglich alle seine Kleidungsstücke bis auf seine Hose ausgezogen und im Reichstag deponiert hatte, damit ja nicht durch ein Versehen seine Identifizierung mißglücken könnte. Er soll sogar mit der Fackel aus dem Fenster gewinkt haben.
Laut Kessler glaube niemand an eine kommunistische Brandstiftung. Ganz offensichtlich war der
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