Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
Selbstmord umgekommen. Kurz nach seinem Tod wurden der Witwe seine letzten Habseligkeiten ausgehändigt, darunter eine Uhr. Durch Zufall entdeckte sie unter dem Uhrdeckel fünfundzwanzig winzige, engbeschriebene Tagebuchblätter auf Zigarettenpapier. Durch sie kam es 1962 zum Prozeß gegen den SS-Mann und späteren Bataillonskommandeur.
Die in Amsterdam in einem Hinterhaus versteckt lebende Anne Frank, die verraten und nach Auschwitz und später Bergen-Belsen deportiert wurde, wo sie 1945 anTyphus starb, wurde durch ihre Tagebücher zur Legende: weil der Mensch sich das Schlimme immer nur am Einzelschicksal vorstellen kann und weil dieses Schlimme besonders empfunden wird, wenn es ein fröhliches junges Mädchen trifft.
An zunehmender Klaustrophobie litt auch, wer nicht in einem Hinterhaus eingesperrt war. Ähnlich beklemmend wie die Tagebücher Anne Franks sind die ab 1996 veröffentlichten Tagebücher des jüdischen Romanisten Victor Klemperer, der in Dresden den Alltag des SS-Staates überlebt und minuziös darüber Bericht ablegt. Wieder sind es die Details, die uns die große gräßliche Geschichte atmend, lebend, zuckend anschaulich machen, bevor sie in Begriffen und später in Phrasen sterilisiert wird. Ganz besonders eindringlich ist Klemperer in der bloßen Aufzählung, der nackten Liste der Gemeinheiten, die auf ihn und alle Juden im Reich herabregnen und die als bürokratische Sadismen fast noch mehr empören als öffentliche Vierteilungen. Hier die Liste der Dekrete, die Klemperer im Jahr 1942 unter ständiger Lebensgefahr im Tagebuch niederlegt:
Neue Verordnungen in judaeos. Der Würger wird immer enger angezogen, die Zermürbung mit immer neuen Schikanen betrieben. Was ist in diesen Jahren alles an Großem und Kleinem zusammengekommen! Und der kleine Nadelstich ist manchmalquälender als der Keulenschlag. Ich stelle einmal die Verordnungen zusammen: 1) Nach acht oder neun Uhr abends zu Hause sein. Kontrolle! 2) Aus dem eigenen Haus vertrieben. 3) Radioverbot, Telefonverbot. 4) Theater-, Kino-, Konzert-, Museumsverbot. 5) Verbot, Zeitschriften zu abonnieren oder zu kaufen. 6) Verbot zu fahren […]. 7) Verbot, «Mangelware» zu kaufen. 8) Verbot, Zigarren zu kaufen oder irgendwelche Rauchstoffe. 9) Verbot, Blumen zu kaufen. 10) Entziehung der Milchkarte. 11) Verbot, zum Barbier zu gehen. 12) Jede Art Handwerker nur nach Antrag bei der Gemeinde bestellbar. 13) Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, 14) von Pelzen und Wolldecken, 15) von Fahrrädern – zur Arbeit darf geradelt werden (Sonntagsausflug und Besuch zu Rad verboten), 16) von Liegestühlen, 17) von Hunden, Katzen, Vögeln. 18) Verbot, die Bannmeile Dresdens zu verlassen, 19) den Bahnhof zu betreten, 20) das Ministeriumsufer, die Parks zu betreten, 21) die Bürgerwiese und die Randstraßen des Großen Gartens […] zu benutzen. Diese letzte Verschärfung seit gestern erst. Auch das Betreten der Markthallen seit vorgestern verboten. 22) Seit dem 19. September der
Judenstern.
23) Verbot, Vorräte an Eßwaren im Hause zu haben (Gestapo nimmt auch mit, was aufMarken gekauft ist.) 24) Verbot der Leihbibliotheken. 25) Durch den Stern sind uns alle Restaurants verschlossen. […] 26) Keine Kleiderkarte. 27) Keine Fischkarte. 28) Keine Sonderzuteilung wie Kaffee, Schokolade, Obst, Kondensmilch. 29) Die Sondersteuern. 30) Die ständig verengte Freigrenze. Meine zuerst 600, dann 320, jetzt 185 Mark. 31) Einkaufsbeschränkung auf
eine
Stunde (drei bis vier, Sonnabend zwölf bis eins). Ich glaube, diese 31 Punkte sind alles. Sie sind aber alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Mißhandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes. –
Am 27. Februar 1943 notiert ein fünfzehnjähriges Berliner Mädchen, Brigitte Eicke, Kriegshalbwaise und Tochter eines Schweinetreibers aus dem Prenzlauer Berg, in ihr Tagebuch in Kurzschrift:
Mit Waltraud bin ich heute Abend in die Volksoper gegangen. Es war eine schaurige Oper ‹Die vier Grobiane›. So ein Quatsch, ein richtig albernes Stück. Am Alex in der U-Bahn haben uns noch drei Soldaten angesprochen. Wir hatten kein Interesse mitzugehen. Es werden überall die Juden abgeholt. Bei uns gegenüber der Schneider auch.
Pepys’ grüne Brille
Nun entsteht nicht jedes Tagebuch in historisch dramatischer Zeit, und nicht jeder, der eines führte, war Seefahrer, Pionier, Marschall am Königshof oder als Verfolgter täglich vom Tode bedroht. Warum lesen wir
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