Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
auch diese anderen Tagebücher gern? Eine Antwort gibt uns Kempowski – natürlich wieder im Tagebuch.
Weiter in den Tagebüchern von Pepys. Der Vormarsch der Türken in Ungarn, die Pest in London. Ich las die ganze Nacht. Die Alltäglichkeiten sind es, die diese Aufzeichnungen so interessant machen. «Kaufte mir heute eine grüne Brille.»
Das
ist es. Das macht unser Leben aus.
Wie war das damals, und wie war es anderswo? Diese Frage beantworten Tagebücher, indem sie das einzig wahre Leben zeigen, das immer das Leben des Alltags ist. Romane verdichten, und in historischen Wälzern taucht Pepys’ grüne Brille nicht auf. Tagebücher zeigen uns das Leben, wie es zu allen Zeiten dahinströmte und vor allem unwichtige Kiesel und Bröckchen mit sich führt, auch wenn die Zeitläufte es immer wieder über schroffe Klippen zwang. Tagebücher bieten das, was heute das Internet bietet:unsortierte und unzensierte, wild blühende und wild wuchernde Information; Gerüchte, die nie den Weg zum Druck finden, kuriose Details und abseitige Aperçus. Was in den Zeitungen steht, passiert viele redaktionelle Filter. Was im Tagebuch oder im Internet-Blog steht, keinen einzigen. Es ist darum viel Katzengold unter dem, was glänzt, aber gerade das macht seinen leicht schmutzigen Reiz.
Gefällt mir – gefällt mir nicht
Internet-Blog – da ist uns das Wort schon herausgerutscht. Richtig, wir leben in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts. Und manche Leserin, mancher Leser wird sich schon im stillen gefragt haben, ob der Verfasser die Moderne verschlafen hat. Tagebücher, auf Papier gedruckte, von Autoren! Das macht doch heute kaum ein Promill der wahren Tagebuchproduktion aus. Das, was früher das liebe Tagebuch war, ist heute für Millionen Menschen ihr tägliches Facebook. Die viele Milliarden schwere Plattform ist nichts anderes als ein gut organisierter Austausch von Tages-Partikeln, die man früher seinem Tagebuch anvertraut hätte und jetzt seinen Freunden öffentlich macht – oder was eben bei Facebook so «Freunde» heißt. Und macht man sie wirklich nur Freunden öffentlich? Nein, manmacht sie überhaupt öffentlich – und niemand weiß genau, wer alles mitlesen und mitgucken kann; das heißt, seit dem Juni 2013 weiß man es nur allzu genau. Ein Tagebuch, an die Chinesische Mauer gehängt – das ist das historisch Neue an Facebook.
In einem historisch unbekannten Grad hat sich die jüngere Generation daran gewöhnt, Privates, wenn nicht Intimes nicht mehr für sich zu behalten, sondern mitzuteilen und zu «sharen» – wie es in der Facebook-Sprache heißt. Das Tagebuch bedeutete Zwiesprache mit sich selbst. Facebook ist das genaue Gegenteil. Es kann ein Mittel sein, sich in der Zerstreuung und im ständigen Schein-Kontakt mit anderen von sich abzulenken. Von Erziehern hört man, daß gerade die Kinder, die keine Freunde haben, am tiefsten in der Facebook-Welt abtauchen. Daß auf die virtuellen Freunde, die sie dort finden, nicht immer Verlaß ist, wenn die wirklichen Flammen hochschlagen – diese schmerzhafte Erfahrung steht ihnen noch bevor. Es steht ihnen vielleicht auch bevor, später bei einem Bewerbungsgespräch peinliche Photos gezeigt zu bekommen, die sie in beschwipster Laune vor Jahren gepostet hatten. In den USA wird bei manchen Bewerbungen schon nach dem Facebook-Paßwort gefragt. Wer nichts zu verbergen hat, wird sich doch nicht so zieren? Einem Soldat aus Südkalifornien, der sich auf Facebook kritisch gegen den Präsidenten geäußert hatte, drohte die unehrenhafte Entlassungaus der Armee. So wächst und wuchert mit Facebook etwas heran, was ein feuchter Traum für Scientologen sein müßte: alle Mitglieder unter Kontrolle. Und dabei alles ganz freiwillig.
Mit dem Charakter des meditativen Tagebuchs hat diese Form der Selbstentäußerung fast nichts mehr gemein. Wenn man sich unter Facebook-Benutzern umhört – etwa in der eigenen Familie bei der Tochter –, stößt man allerdings auch auf Spott über die allzu exhibitionistischen Freunde. Die pragmatischen Benutzer sehen Facebook nicht als Tagebuchersatz, sondern als schnellen Terminplaner. Man wird daran erinnert, wer wann Geburtstag hat, man kann sich zügig mit drei anderen verabreden; man kann sich gegenseitig auf die neuesten Flashmob-Videos hinweisen. Der Walforscher aus Hawaii, den man auf einer Kreuzfahrt kennengelernt hat, kann einen Signalstrahl ausstoßen. Das Goethe-Institut in Georgien kann uns in seine Pläne einweihen. Was
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