Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
immer politisch Skandal macht, zieht komische Cartoonisten an. (Photo: Der amerikanische Präsident, umringt von fähnchenschwingenden Kindern, ein Mädchen blickt zu ihm auf, Sprechblase: «Mein Vater sagt, Sie können in meinen Computer gucken». Sprechblase Obama, in kleinerer Schrift flüsternd: «Das ist nicht dein Vater» …)
Aber dann gibt es noch die vielen anderen! Der Pegelstand deines Welt- und Lebensgefühls hat sich in der letztenViertelstunde um sieben Gradstriche verändert?
Post.
Deine Katze hat
so
süß am Milchnapf genascht? Photo und
Post.
Alles scheint mitteilenswert, und alles wird mitgeteilt. Und allem zugrunde liegt die Gier nach den
Like
-Klicks, nach dem virtuellen Schulterklopfen «Gefällt mir!», das gerade dem nicht selbstsicher im Leben Stehenden für einen kurzen Moment Bestätigung gibt. Und wie viele Jugendliche stünden schon selbstsicher im Leben?
Ob aber pragmatisch genutzt oder exhibitionistisch, die Folgen der Facebook-Pandemie sind nicht zu übersehen. So wie man nicht mehr in der S-Bahn oder im Intercity fahren kann, ohne übers erzwungene Handy-Mithören über die Reisepläne, Gerichtsverhandlungen oder Seitensprünge der Mitreisenden unterrichtet zu werden, so kann man nicht bei Facebook aufschlagen, ohne von den Tageströpfchen der befreundeten
Poster
bespritzt zu werden. Und das ist nur eine von etlichen historischen Neuerungen, die von Facebook ausgehen. Wenn man sich ansieht, was die User vor allem posten – pardon, aber allein die Sprache ist eine Pestilenz für sich –, dann stößt man auf Überraschendes. Es ist nämlich weniger Text als Bild, was da versendet wird. Die wenigsten Einträge bei Facebook sind reine Schriftbeiträge. Das Geschriebene dient vorwiegend als Bildunterzeile. Und selbst im Geschriebenen beginnt das Piktogramm an der Vormacht des Alphabets zu knabbern. Einersetzt anderthalb Worte.Es ist heute noch gar nicht auszumachen, was diese sich auf Katzenpfötchen einschleichende Ent-Alphabetisierung für die Zukunft der heranwachsenden Generation bedeutet. Wie viele der Autoren, die zum Beispiel hier zu Wort gebeten wurden, wird sie noch lesen wollen? Andererseits ist diese Frage oder Klage so alt wie die schreibende Menschheit selbst. Wahrscheinlich bleibt der Anteil der echten Leser klein, aber stabil. Die dritte Wurzel aus P, der Bevölkerungszahl – das war die Formel, die Arno Schmidt einmal vorschlug –, mindestens so viele wird es als verschworenes Grüppchen immer geben, daran ändern auch die neuen Medien nichts.
Was dagegen im Verschwinden begriffen ist oder sich schon weitgehend verabschiedet hat, ist die handschriftliche Form des Tagebuchs, sobald es elektronische Formen annimmt. Der Blogbeitrag wird direkt in die Tastatur getippt. In den Eintragungen früherer Jahrhunderte war dem Duktus noch zu entnehmen, in welcher Verfassung der Diarist war. War die Schrift ausladend schwungvoll, depressiv geduckt, fahrig gehetzt? Beim getippten Text fallen diese Informationen weg. Überhaupt fällt all der Reiz weg, der in der Handschrift liegt. In dem voluminösen Prachtband
Das Buch der Tagebücher
von Rainer Wieland sind zu jedem Monatsbeginn solche Handschriften faksimiliert – die letzte Tagebuchseite von Robert Scott mit dem Eintrag: «the end cannot be far»; eine SeiteKafkas, die Handschrift so schwer zu beschreiben wie unverwechselbar; Goethe, kalligraphisch Lasso werfend; eine Seite mit der Shelton-Kurzschrift von Samuel Pepys, die von ferne aussieht wie ein Blatt von Paul Klee; die filigrane Kartenskizze des Orinoco von Alexander von Humboldt, französisch annotiert; Harry Graf Kesslers Schrift wie fein schraffierter Regen; Victor Klemperer, kein Fitzelchen Papier verschwendend, die Aufzählung des Schikanenhagels so eng und dicht gedrängt wie dieser selbst; Charles Darwin mit dem bescheidenen «I think» über der Skizze des Evolutionsbaumes, der die Entstehung der Arten illustriert; Kempowski am 9.11.1989 in lehrerhaft lesbarer Schrift: «Mitternacht. An den Grenzübergängen stauen sich Tausende von DDR-Leuten, die rüber wollen, die Grenzen sind geöffnet worden. Die Polizei dort weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. – Die Mauer könnte also fallen.»
Das alles in der Handschrift und nicht nur gedruckt zu sehen, hat einen fast nostalgischen, um nicht zu sagen (sorry, Susan): auratischen Charme. Den durch seinen hohen piktoralen Anteil in vertrackter Weise wiederum auch Facebook bedient.
Die Grundlage ist digital. Die
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