Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
verstehen, wenn man Herrndorfs Blog gelesen hat. Man versteht sogar das etwas schrille Manifest
Reality Hunger,
das im Jahr von Herrndorfs Diagnose erschien. Es ist ein Buch, das sich fast vollständig mit Zitaten panzert, hinter denen aber ein kleines Herz persönlicher Wahrheit pocht. Schreiben heiße, den eigenen Körper aufs Ziel zu schleudern, nachdem alle Pfeile abgeschossen sind – so der Manifest-Verfasser David Shields. Ein anderes Bild, das er gegen die traditionelle
fiction
ins Feld führt:
Making up a story or characters feels like driving a car in a clown suit.
Hmm. Ist das richtig? Leider ist
irgend
etwas daran nicht ganz falsch. Vielleicht liest man Tagebücher auch aus einem gewissen Verdruß an der Fiktion? Hier sitzt niemand im Clownskostüm am Steuer; hier ist das wirkliche Leben, nicht bloß ausgedachtes, hier herrscht farbiger Alltag, wie auch der Künstler ihn hat, hier sind wirkliche, liebende, leidende, eifersüchtige, verzweifelte, an Krebs sterbende Menschen. Hier wird keine Form oder Konvention bedient, hier wird nichts retouchiert und künstlich zurechtgelegt. Reich-Ranicki erinnert sich, im Warschauer Ghetto habe er nicht mehr gelesen, nur noch Musik gehört. Was soll einem, wenn es ernst wird, der erfundene Quark?
Nun war es die Literatur, die Reich-Ranicki später das Leben rettete, als er dem polnischen Paar, das ihn und seine Frau zunehmend unwillig versteckt hielt, die Zeit mit Nacherzählungen der Klassiker vertrieb. Und es liegt auf der Hand, daß die großen Autoren es gerade deswegen sind, weil uns ihre erfundenen Figuren wie reale und eben nicht wie Clowns berühren. Als Charles Dickens im Hafen von New York eintraf, wurde er von einer Traube von Lesern bedrängt und nach dem Schicksal von Klein Nell ausgequetscht. Welchen Bach von Kindertränen hat der Tod Bambis ausgelöst! Und nicht nur Kinder trauern um Phantasiefiguren. Die größte Tragödie im Leben Oscar Wildes war, nach seinem bekannten Wort, der Tod des Lucien de Rubempré.
Was schön gesagt war, aber natürlich nicht stimmt. Die größte Tragödie in seinem Leben war nicht der Tod einer Balzac-Figur, sondern seine Verurteilung wegen Unzucht zu zweijähriger Zwangsarbeit. Die romanesken Schmerzen sind kleiner als die wirklichen, und Druckerschwärze ist am Ende doch dünner als Blut.
Darum ist der Vertrag, den der Autor mit dem Leser schließt – wenn er ihn denn, und sei’s post mortem, mitlesen läßt –, beim Tagebuch ein anderer als bei einem Werk der Fiktion. Wenn eine freiwillige Abtreibung zu einer tragischen Fehlgeburt umstilisiert wird, dann wird dieser Vertrag gebrochen. Von Ernst Jünger weiß man inzwischen, daß er am 27. Mai 1944 eben nicht auf dem hohen Dache des Hotels Raphael bei Sonnenuntergang ein Glas Burgunder hielt, in dem Erdbeeren schwammen, als ein deutsches Geschwader die Stadt angriff, die mit ihren roten Türmen und Kuppeln einem Blütenkelche glich, «der zu tödlicher Befruchtung überflogen wird». Den Luftangriff bei Sonnenuntergang hatte es nicht gegeben.
Tant pis
für den Kitschier der
Strahlungen.
Der dafür später selbst einmal Opfer einer Täuschung wurde. 1982 rief der Publizist und Stimmenimitator Hans Tomayer bei Ernst Jünger an und gab sich als Luis Trenker aus. Das Gespräch wurde anschließend in der Monatszeitschrift
Konkret
veröffentlicht. Wer davon nichts mitbekommen hatte, war der Tagebuchschreiber Jünger, der imdritten Band von
Siebzig verweht
einen «Anruf von Luis Trenker (‹Berge in Flammen›)» festhält, «der etwas mit mir ‹zusammen machen› will». Höhere Gerechtigkeit, wie man gerade mit Blick auf den Tiroler Bergsteiger sagen darf.
Daß die Dichter viel lügen, wissen wir seit Plato. Wer im Tagebuch lügt, lügt doppelt. Wenn wir erführen, daß Helmut Krausser nie in Südfrankreich war und nie ein Piktogramm über das Verbot, Herzen in den Fels zu ritzen, gesehen hat, wären wir verstimmt. Wenn herauskäme, daß Elizabeth Taylor nie im Stehen gejoggt hat, wären wir – und potentiell zehn Millionen Zaungäste – enttäuscht.
Das Tagebuch soll uns durch seine Form etwas garantieren, was keine andere literarische Form leisten kann noch will. Es soll, soweit dies überhaupt möglich ist und nicht schon die Niederschrift verzerrt – was sie natürlich tut –, echt sein und unverstellt. Das hat zur Folge, daß sich sein Verfasser nicht ins beste Licht rücken darf. Manchmal fragten ihn gutmeinende Menschen, schreibt Helmut Krausser, ob ihm
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