Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
physikalische Bedingung des Facebook-Erfolgs und seiner fulminanten Durchschlagskraft ist die Lichtgeschwindigkeit, mit der sich das Gepostete ausbreitet. Was 2004 als Studentenulk begonnenhatte (und damals noch als
The Facebook
den Artikel trug), hat nicht nur seinen Erfinder Mark Zuckerberg zum vielfachen Milliardär gemacht. Es hat inzwischen das Potential, Throne bersten und Reiche zittern zu lassen. Dies ist die gewaltigste Umwälzung, die von Facebook ausgeht. Daß eine Demonstration, viele Demonstrationen und am Ende eine Revolution leichter über Facebook als mit Brieftauben ins Werk zu setzen ist, hat die
Arabellion
gezeigt und die Protestbewegung in der Türkei bestätigt. Erdogan setzte die Falschmeldung in die Welt, Facebook habe der Regierung die Daten der Nutzer weitergegeben, die über den Protest berichteten. Hoffentlich war es eine Falschmeldung.
Diese Bedeutung der sozialen Netzwerke für spontane Schwarm-Organisation ist etwas Neues in der Geschichte. Die autoritären Regimes verwenden viel Mühe (und westliche Technologie) darauf, die freien Netzwerke zu überwachen, zu zensieren oder zu kappen. Die angelsächsischen, wie sich mit
Prism
und
Tempora
zeigt, nicht weniger. Und Facebook hatte, auch wenn man seine Bedeutung nicht überschätzen soll, für viele Opfer zumindest therapeutischen Wert. Eine Ägypterin, die gefoltert worden war und auf Facebook darüber berichtete, schrieb später, sie fühle sich erstmals als Mensch, weil sie ihre Meinung habe äußern können. Facebook sei ein Werkzeug gewesen, sich aus der Unmündigkeit zu befreien. Das ist nichtwenig; es ist sogar sehr viel. Wo immer sie in der wirklichen Welt hilft, wirkliches Leid zu lindern, ist Zuckerbergs Riesenmaschine ihr Gewicht in Tetrabyte wert.
Facebook hat noch eine weitere historische Neuerung durchgesetzt. Seit der umstrittenen Systemumstellung auf das Modell
LifeLine
erscheint ein Gebilde am Horizont, das man als Lebenstagebuch bezeichnen kann. Entlang einer chronologischen Achse werden alle Meldungen und Bilder jedes Teilnehmers gesammelt und für alle Zeiten verwahrt – möglichst von der Wiege bis zur Bahre. Der gute Henri-Frédéric Amiel wäre erbleicht. Dagegen ist sein Textmassiv bescheiden. Wer will und fleißig postet, kann bei Facebook sein ganzes Leben dokumentieren. In dieser Hinsicht ist Facebook das Meta-Tagebuch, das alle andern überflüssig macht. Freilich mit einem entscheidenden Unterschied: Das wirklich Geheime wird man ihm am Ende doch nicht anvertrauen – spätestens seit Ed Snowdens Coup wäre man denn schon sträflich naiv.
Tolle Sauerei, der Frühling
Der erste deutsche Autor, der sein Tagebuch mit großem Erfolg als Blog ins Netz gestellt hatte, war der 1954 geborene Rainald Goetz, der seitdem eine wachsende Schar von Verehrern oder Followers im Schlepptau führt. Wie schreibt Goetz, wenn er bloggt? Oft so, wie wir unsere Kinder erfolglos anflehen, nicht zu sprechen. Daß Goetz dabei viel schrägen Witz entwickelt, sei ihm nicht bestritten. Und bei allem Techno blüht im
Abfall für alle
hier und da sogar Goldlack auf – entzückende Miniaturen über die Natur.
Donnerstag, 19.3.98, Berlin
Großes Elsterkonzert, draußen im Baumwipfel vor dem Fenster. Noch sind die Stecken der Äste oben ganz nackig, vorne die kleinen schwellenden Kügelchen der Knospendinger. Immer eine tolle Sauerei, der Frühling. Die Vögel sind plötzlich zu viert, hupfen und tanzen da umeinander rum, mit ihren langen schwarzblau-metallic lackierten Schwänzen wie lässige Proll-BMWs.
Noch ist Goetz sich unklar darüber, um welchen Baum es sich handelt. Das Rätsel klärt sich drei Wochen später.
Dienstag, 7.4.98, Berlin
Es regnet. Der Baum vor dem Fenster: also eine Kastanie. Wie kleine lahme Beinchen hängen die einzelnen Blätter aus jeder ehemaligen Knospe jetzt raus, ganz hilflos, nach unten. Und in drei Minuten geht der Terror mit den KERZEN los. Seltsamer Baum.
Und ein sympathisch seltsamer Autor. Übrigens liest auch Goetz gerne fremde Tagebücher:
Ostermontag, 13.4.98, Berlin
1223. Die letzte Woche kam mir irgendwie zu lange vor. Zusätzlich verwirrend: die Stille dieses feiertäglichen Montags. Das große Geheimnis: die Balance halten, wie? Ich habe in München ein Tagebuch von Dali, voll mit dem ganzen bekannten, überdrehten Dali Irrsinn. Nur zwischendurch mal, ein ganzes Jahr lang: nichts. Schweigen. Kein Wort. Keine Zeile. Nur die Jahreszahl. Finster.
Die logische Folge: «Kein Wort. Keine Zeile»
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