Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
sechs Wasserstoff, sechs Stickstoff, zwei Sauerstoff zu zwei Ringen gebogen: Temozolomid. Fünf Tabletten 1189,17 Euro. Danke, AOK. Im Ernst: Ich weiß nicht, wie das Gesundheitssystem ausgesehen hat, bevor alle anfingen, sich zu beschweren, wie sehr runtergerockt es nun sei, aber was dieses System schon in die Errettung und Erhaltung einer flackernden Kerze investiert hat, die sich um das Bruttosozialprodukt dieses Landes bisher auch noch nicht so verdient gemacht hatte: erstaunlich. Danke Staat, danke Gesellschaft, danke AOK, danke, danke.
11.5.2010 17:32
Der ungeheure Trost, der darin besteht, über das Weltall zu schreiben. […] Warum ist der Anblick des Sternenhimmels so beruhigend? Und ich brauche nicht einmal den Anblick. Vorstellung und Beschreibung reichen. Als ich noch auf der Kunstakademie war, war das immer mein Einwand gegen die Abstraktion: Der Himmel. Leider war ich mit dieser Meinung ganz allein.
Gibt es in der Wissenschaft eigentlich Denkmodelle, die versuchen, die ungreifbare, nur an Sekundär-phänomenenwie Veränderung und Bewegung meßbare und anstößige Größe der Zeit aus der Physik herauszurechnen?
21.9.2010 12:35
[…] Für anschließend zwei Pläne: Wenn kein Tumorwachstum, setz ich mich an den Wüstenroman und hau ihn bis zum nächsten MRT zusammen. Im andern Fall: werf ich ihn weg und verleg mich aufs Blog. Was schade wäre. Korrekturleser meinten, es wäre das Beste, was ich bisher geschrieben habe. […]
21.9.2010 13:11
Warten auf den Befund bei Dr. Vier. Ich kann ihm zur Begrüßung nicht ins Gesicht sehen. Setze mich in den Stuhl und warte, bis er den ersten Satz sagt. Es folgt: Der Wüstenroman.
22.9.2010 23:55
Nach einem Tag Gleichgültigkeit kommt der Gefühlsausbruch doch noch. Wir sitzen gerade im Prater, und ich muß mit Kathrin vor die Tür. […] Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: Die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.
Entgegen den ersten Befürchtungen und statistischen Mittelwerten hat Herrndorf nicht nur seinen Blog mittlerweile neununddreißig Mal ins Netz gestellt. Er hat davor auch den Roman
Sand
beendet, für den er viele Hymnen und den Preis der Leipziger Buchmesse bekam, und er schreibt an
Isa,
einer Fortsetzung von
Tschick.
Bei aller Hochschätzung für diese Romane – sein Blog
Arbeit und Struktur
steht ihnen an literarischem Rang nicht nach. Es gibt in der Geschichte des Tagebuchs nichts, was ihm gleichkäme an Takt, Wärme, dunklem Witz, Sarkasmus und stillem Grauen.
6.2.2013 5:50
Der Sonnenaufgang verschiebt sich immer weiter in die Nacht. Ich muß jeden Tag früher aufstehen, um mit einem Tee in der Hand auf den ersten Lichtstrahl am dunklen Himmel zu starren. Ich will im Winter sterben. Das haben die letzten Sommer gezeigt, im Sommer geht es nicht. Im Winter ist es leicht.
7.2.2013 18:18
Unter der Brücke loht ein haushohes Feuer, wahrscheinlich die Baustelle. Sattes Orange, vom warmen Blaulicht bedrängt und gelöscht, Naturalismus, frühes 19. Jh., Turner vielleicht, dann schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund.
11.2.2013 17:00
Ein dünner epileptischer Firnis überzieht meine Tage, immerzu Stimmen.
Und Selbstmord doch nicht so schwierig, wie ich lange dachte. Es reicht, die Föhrer Straße bei Grün zu überqueren. Weder Linksabbieger noch Geradeausfahrer erkennen in den verschieden bunten Lichtern etwas anderes als einen unverbindlichen Vorschlag der Behörden.
25.3.2013 15:50
Ein großer Spaß, dieses Sterben. Nur das Warten nervt.
28.3.2013 9:40
Das Fax liegt vor Dr. Vier auf dem Tisch. Der Gesichtsausdruck meldet sofort: keine Katastrophe. Das Avastin wirkt. […]
Eine Prognose gibt es nicht, eine allgemeine Statistik auch nicht mehr. Nach drei OPs, zwei Bestrahlungen, drei verschiedenen Chemos ist man seine eigene Statistik.
Vor drei Jahren noch war ich ein winziger Punkt in einer Punktwolke, reine Mathematik, kein Individuum, das hatte mir gefallen. Jetzt weiß ich nicht mehr. Keiner weiß.
In seinem jüngsten, dem 39. Eintrag von
Arbeit und Struktur,
erwägt Herrndorf, ob er seinen Blog einstellen soll. Was immer die Zukunft bringt, seine Leidenschronik wird den Weg zum Buch finden und künftige Generationen lehren, was Stoizismus sei.
Das Kopfkissenbuch
«Vielleicht», heißt es einmal beim Nicht-Diaristen Robert Musil, «wird man eines Tages nur noch Tagebücher schreiben, weil man alles andere unerträglich findet.» Was könnte Musil gemeint haben? Man glaubt es zu
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