Heute bedeckt und kühl - große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf
denn nicht bewußt sei, daß dieser oder jener selbstbeweihräuchernde Text aus seinen Tagebüchern zu Spott und Häme geradezu einlade? Wer so etwas frage, habe nichts verstanden. Natürlich sei ihm bewußt, wie er bescheidener oder sympathischer wirken könne, aber die Sache sei doch so: Häme und Spott gingen ihn bald nichts mehr an, spätestens, wenn er tot sei.«Ein Tagebuchautor darf sich nicht um so etwas kümmern, er muß sich nur fragen:
Ist das, was da steht, wahr?»
Wenn das, was da steht, wahr im Sinne der subjektiven Wahrhaftigkeit ist – was bedeutet, daß auch der Uruguayer die Wahrheit sagt, wenn er nach der Unterredung mit Charles Darwin einfließen lässt, die Kämme der Damen in Buenos Aires seien bekanntlich weltweit die größten (und vielleicht waren sie es ja auch?) –, wenn also das für wahr Gehaltene darin aufscheint, dann hat das Tagebuch seine unter den literarischen Gattungen einzigartige Funktion erfüllt.
Das eigentliche Studium des Menschen sei der Mensch, wie der Geheimrat wußte. Tagebücher sind die Lehrbücher bei diesem Studium. Und ihr Ziel ist tatsächlich das
Gnōthi sautón
des Apollontempels in Delphi, das «Erkenne dich selbst!». Das Vergnügen beim Lesen von Tagebüchern besteht darin, fremde Temperamente zu erkunden, die zuletzt so fremd gar nicht sind. Der Mensch vergewissert sich nämlich gern, daß es den andern nicht grundsätzlich anders geht. Erstaunlicherweise selbst dann nicht, wenn uns eine Kluft von ihnen trennt. Nehmen wir zum Abschluß das Beispiel der Hofdame Sei Shonagon, die um das Jahr 1000 am Japanischen Kaiserhof lebte. Auf die Nachwelt kam sie durch ihr sogenanntes Kopfkissenbuch. In diesem Tagebuch legte sie 164 Listen an, die Titel tragen wie «Was verwirrend und befremdlich aussieht»(«Katzenohren von innen») oder «Was glücklich macht» («Wenn jemand, den ich hasse, Pech hat»). Wenn man in diesem Tagebuch aus dieser so fremden Kultur und so fremden Zeit unter der Rubrik «Wobei man sich langweilt» den Eintrag liest: «Besuch im Haus eines Mannes, der bei der letzten Beförderungswelle vergessen wurde», amüsiert man sich so wie bei der Lektüre Samuel Pepys’. Wie wenig der Mensch sich doch geändert hat!
Schadenfreude, Wollust, Neid, Selbstmitleid, das auf höfliches Gähnen stößt – das war den Menschen schon damals nicht fremd. Im Reptilienhirn unserer Gefühle sind wir alle gleich. Tagebücher, wenn sie nicht heucheln, zeigen uns, wie wir als Sündensäcke doch alle Brüder und Schwestern sind. Das ist bis heute ihr pietistischer Kern. «Du bist nicht allein» – das ist die tiefste Botschaft, die uns aus Tagebüchern entgegenschallt.
Anmerkungen und Nachweise
Eine schmalere Vorfassung von
Heute bedeckt und kühl
erschien 2012 als Privatdruck der Schweizer Vontobel-Stiftung unter dem Titel
Tagebücher: Warum schreibt man sie? Warum liest man sie?
Aus Gründen der Vereinheitlichung wurden fast alle «dass» und «floss» etc. stillschweigend zu «daß» und «floß» etc. rückkorrigiert.
Die Motti – Leo Tolstois Vorsatz vom 4. Januar 1906, Richard Burtons Eintrag vom 9. Februar 1973, zit. nach Rainer Wielands
Buch der Tagebücher.
Samuel Pepys –
Ich dürfte eigentlich nicht mehr erleben, als ich hier festhalten kann
– James Boswells Eintrag vom 17. März 1776 im
Journal. – Urin von jungen Hunden
– Pepys am 8. März 1664, vgl.
Tagebuch aus dem London des 17. Jahrhunderts. – Hasenpfote oder Terpentin?
– 20. März 1665. –
Kreuzung aus Mensch und Gorilla
– 24. August 1661. –
König ißt Kirschen vom selben Baum – 7.
Juli 1663. –
König kann dem Regen keinen Einhalt gebieten
– 19. Juli 1662. –
König küßt Damen nackt am ganzen Körper
– 16. Oktober 1665. –
König von Spanien pißt nur, wenn man ihm Nachttopf hält
–11. Juli 1666. –
Amüsierte mich in der Kirche mit Fernglas
– 26. Mai 1667. –
Frauen an Bord vorüberfahrender Schiffe
– 8. April 1660. –
Bohrte im Büro ein Loch in die Wand
– 9. Juli 1662. –
Mais elle ne voulait pas
– 19. Dezember 1664. –
Einer Deutschen, die trotzdem sehr schön ist
– 21. November 1661. –
Mr. Cooke betrunken wie eine Haubitze
– 5. Februar 1665. –
Der wievielte Hochzeitstag?
– 10. Oktober 1666. –
Unterröcke aus Seide, aber wir kauften keinen
– 15. April 1662. – Sofort
den besten gekauft
– 25. Juni 1663. –
Sie ist schon ziemlich schwanger
– 6. Dezember 1664. –
Mit beiden Beinen durch
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