Heute bin ich blond
Gefahr wittert und wieder sein Piepsen ertönen lässt. Die Schwestern kommen angelaufen, die Lichter gehen an – mit seiner schrillen Stimme hat sich mein langer Freund schlagartig in einen grimmigen Kämpfer verwandelt, der sich mit aller Kraft für mich ins Zeug legt. Aber zum Glück gehen die Lichter jedes Mal wieder aus, und man überlässt uns unserer friedlichen Stille. Unserer Stille und dem bisschen Flüssigkeit, das uns verbindet, durch einen dünnen, leise singenden Schlauch.
Gleich kommt mein Vater wieder hereingestürmt in seinem froschgrünen Hemd und dem farblich darauf abgestimmten olivgrünen Jackett. Speziell für den Anlass. Und dann, wenn alle Lichter ausgehen, bin ich endlich allein und kann auf Net5
Desperate Housewives
schauen. Ab und zu schauen die Schwestern eine müßige Minute lang mit, um zu sehen, was die Hausfrauen so machen. Dann wandern meine Augen zu der beleuchteten Uhr, die die ganze Nacht weitertickt, genauso eine wie die, die ich auf Doktor K.s Station im Blickfeld hatte. Jeden Tag hoffe ich auf einen Überraschungsbesuch von ihm oder auf eine Karte. Und nachts – wenn meine Einsamkeit am größten ist –, ist auch mein Verlangen nach seinen starken Schultern am größten. Ich denke dann allen Ernstes, es sind seine Arme, nach denen ich mich so sehr sehne, und nicht die eines netten, attraktiven Zwanzigers, bei dem das naheliegender wäre.
Weiter den Gang hinunter liegt jemand im Sterben; es klingt wie ein Nilpferd mit Zahnschmerzen. Man hätte mich warnen sollen, dann hätte ich mir Ohrstöpsel besorgen können. Was für ein Lärm! Wie wird es bei mir einmal klingen? Oder riechen? Ein Alptraum. Aber bei mir noch lange nicht. Bas bringt mir Ohrstöpsel. Sogar um drei Uhr nachts freue ich mich, wenn er hereinkommt. Die Ohrstöpsel sind rosa und knetbar. Während ich sie in den Händen anwärme, höre ich ein Stück entfernt ein leises, aber drohendes: »Halt endlich die Klappe!« Manchmal ist das hier wirklich ein Irrenhaus.
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Freitag, 8. April 2005
Morgens weckt mich eine grässliche Frau mit einer noch grässlicheren Nadel in der Hand. In einer Schale hat sie alle ihre Gerätschaften bei sich. Es ist noch nicht mal acht, meine Wange klebt noch am Kissen, und ich weigere mich, die Augen aufzumachen. Ekelhaft. Aber Widerstand ist zwecklos, und so strecke ich brav den Arm aus. Ein Auge offen, das genau hinschaut, in der Hoffnung, das Stechen möge beim ersten Mal gelingen. Vergeblich. Grässliche Person.
Der Vorhang geht auf, und ich bekomme mein Frühstück vorgesetzt.
»Einen wunderschönen guten Morgen!«, ruft die Kaffeedame, so dass jeder auf der Station, der noch schlafen will, es hören kann. Und wie jeden Morgen bringt sie mir eine Thermosflasche mit abgekochtem Wasser. Wieder pinkeln, denke ich, als ich den x-ten Beutel Kochsalzlösung in meinen Körper fließen sehe, und das heißt Gefummel mit Kabeln. Patientin in Hochform. In dem ganzen Trubel mit Kaffeedamen, Nadeln, Schwestern und Ärzten gelingt es mir manchmal, die Augen zu schließen und so zu tun, als ob Nacht und nichts los wäre.
Ich stehe auf und mache mich bereit, nach unten zu gehen, zum Dentalhygieniker. Meiner ist schwul. Homo. Tunte. Von allem ein bisschen. Und vor allem sehr nett. Ich gehe regelmäßig zu ihm, für den Fall, dass meine Zähne sich durch die Medikamente lockern. Aber bis jetzt sitzen sie fest. Mein Dentalhygieniker meint, ich habe ein starkes Gebiss. »Wie deine Mutter.«
Ja, wie Mama. Die kennt er noch vom letzten Jahr.
Um zu ihm zu kommen, muss ich zwischen den normalen Menschen durch in die Eingangshalle. Normale Menschen, die vielleicht ein Wehwehchen haben, aber nicht klinisch stinken. Denn im Wandelgang ist alles noch harmlos. Ein paar Leute in der Ambulanz, ein paar Besucher von draußen, aber keine klinischen Stinkpatienten. An meinen Infusionsständer gekettet, stehe ich im Aufzug und fahre ins Erdgeschoss hinunter. Da schiebe ich dann meinen langen Freund vor mir her, mit knallroten Ballonwangen und einem Gesicht voller Angst. Angst aufzufallen. Alle schauen her, schauen das arme junge Mädchen aus der Onkologie an. In Wirklichkeit, aber auch in meinem Kopf. Dabei habe ich mich ganz normal angezogen – Jeans und schwarzer Rolli – und meinen Pyjama mit den dazugehörigen Pantoffeln auf der Station gelassen. Einige von den Leuten hier haben bestimmt schon mal mit einem Infusionsständer Bekanntschaft gemacht, zumindest vom Hörensagen. Das entnehme ich
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