Heute bin ich blond
Schweißgeruch mit einem Extrawaschgang zu bekämpfen, aber inzwischen weiß ich, dass dagegen kein Kraut gewachsen ist.
Pauke – die Birkenstocks müssen eigens für sie erfunden worden sein – war eben da, um mich zu wiegen und Blutdruck und Temperatur zu messen. Keine DJ ane, keine Halbtagsverkäuferin, kein hübsches junges Ding, sondern eine ganz normale, altmodische Krankenschwester, die gern zupackt. Ich finde sie großartig. Ihre hochgewachsene Gestalt erinnert mich an Tante Sidonia, und sie bewegt sich effizient von Bett zu Bett. Pauke achtet streng darauf, dass alles, was geschehen muss, auch geschieht, verliert dabei aber nie ihr fröhliches Lachen. Auch wenn sie ab und zu mal danebensticht. Das passiert aber nur an ihren freien Tagen, die selbst sie zu haben scheint. Ich merke nichts davon.
Ich fühle mich zwar nicht krank, aber doch zu elend, um im Wandelgang der Station herumzulaufen. Nach ein paar Stunden Chemo setzt langsam die Übelkeit ein. Nicht so stark, dass ich mich übergeben müsste, aber doch stark genug, dass ich nicht ans Essen denken kann. Pauke überredet mich, aus dem Bett zu kriechen, damit sie es frisch beziehen kann. Sie macht das jeden Tag, es sei denn, sie kapituliert vor meiner kläglichen Miene. Das habe ich aber erst einmal geschafft, da hatte ich meine Thunfischbrötchen-Flutwelle perfekt getimt. Einmal habe ich sie gefragt, ob sie manchmal an mich denken muss, wenn sie am Ende ihrer Schicht die Klinik Klinik sein lässt und in ihre eigene Welt entschwindet.
»Ja«, sagte sie, »aber da denke ich dann an Feigen und Datteln und nicht an Infusionen, Piepser, Luftblasen und sterile Nadeln.« Nein, sie denkt an herrlich süße Feigen und weiche, sahnige Datteln. Weil ich einmal laut den Nährwert dieser Früchte studiert habe, während sie meinen Blutdruck gemessen hat. Das ist ihre Version des halbvollen Glases. Und weil ich damit so viel anfangen kann, assoziiere ich Pauke mit drei Teenagern – die zu Hause auf sie warten, wenn sie in der Klinik fertig ist –, mit Cap Ferrat – weil sie so schön davon erzählen kann – und mit Tante Sidonia.
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Donnerstag, 7. April 2005
Mein langer Freund ist immer da: abends, wenn ich mir das Gesicht wasche und die Zähne putze, wenn die Lichter ausgehen und ich einschlafe und von Doktor K. träume. Aber auch wenn die Lichter wieder angehen und ich aufwache, wenn ich mir wieder das Gesicht wasche und die Zähne putze und meinen Brei esse. Treu und brav steht er neben mir und wacht über mich, ohne dass seine Aufmerksamkeit je nachlässt.
Mein langer Freund ist keiner, der viele Worte macht, aber manchmal verschafft er sich doch Gehör. Sobald er Gefahr wittert, reißt er den Mund auf und entpuppt sich als ein wahrer Kampfhahn, der sich von nichts und niemandem aus dem Feld schlagen lässt. In diesen Momenten erinnert mich seine schrille Stimme wieder daran, dass er da ist, und ich lasse ihn ärgerlich, aber vertrauensvoll gewähren. Dann brüllt er die ganze Station zusammen, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Das finde ich lieb. Dieses bisschen Extra-Aufmerksamkeit tut mir gut in diesem Haus voller Leidensgenossen.
Manche machen Witze über meinen langen Freund. Wahrscheinlich, weil sie nichts Rechtes mit seiner hohen, schlanken Gestalt und seiner Stimme anzufangen wissen. Manchmal machen sie sich über seinen Schmuck lustig, zeigen auf seine Blinklichter und nennen ihn einen Weihnachtsbaum. Oder sie nennen ihn einen langen Lulatsch. Doch das kümmert meinen langen Freund und mich nicht. Sophie und der Lange Lulatsch haben schließlich schon viele Konkurrenten gesehen, aber keiner blinkt so schön wie er.
Es kommt auch vor, dass mein langer Freund wegen seiner Piepserei ausgelacht wird. Er piepst alle seine Freunde zusammen, und das bleibt nicht unbemerkt. Und geht nicht ohne Neid ab. Aber auch das kümmert uns nicht, denn Sophie und der Lange Lulatsch wissen ja, dass niemand so viele Kahlköpfe vor dem Sensenmann gerettet hat wie er.
Mein langer Freund kann eine ganze Menge, aber unschlagbar ist er im Stillsein. »Die Stille bewahren«, sagt er, »ist, wie wenn man das Leben festhält. Das Leben, das dich und mich verbindet. Dich und mich, du und ich, der Lange Lulatsch und Sophie.«
Verbunden sind wir durch die Flüssigkeit, die durch den dünnen Schlauch fließt. Gemeinsam lauschen wir der Musik des Schlauchs, der Melodie der Luftblasen und Pumpgeräusche. Wir genießen die Ruhe, bis mein langer Freund
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