Heute bin ich blond
Gesellschaftsklatschniveau schon seit einigen Tagen anhören muss. Das Durchschnittsalter in dem Zimmer liegt bei einundsiebzig, ich senke es auf achtundfünfzigeinhalb.
»Einen wunderschönen guten Morgen! Noch was zu trinken?«
Kein Hahn kräht.
»Nicht alle auf einmal«, scherzt die Kaffeedame. Immer noch keine Antwort, die Pflanzen bleiben lieber trocken. Trotzdem werden Tee und Kaffee nachgeschenkt. Unterdessen werde ich an meinen Infusionsständer angeschlossen, und eine unangenehme Person unternimmt mehrere lustlose Versuche, mir Blut abzuzapfen. Auch der Putzlappen kommt und gleich darauf das Kopftuch, damit alles möglichst steril bleibt.
Neben mir sitzt Mama. Meine liebe, treue Mama. Kein Tag vergeht, ohne dass sie sich die Lippen rot nachzieht. Sie ist energisch, präsent und sehr direkt, besonders wenn es um die Gesundheit ihrer Töchter geht. Die Praktikanten würdigt sie kaum eines Blickes, und auch die Assistenzärzte müssen einiges einstecken. »Weißt du das genau? Weiß Doktor L. davon?« Oder wenn eine Braunüle gelegt wird: »Nur wenn es gleich beim ersten Mal klappt. Sonst holst du besser einen Kollegen.« Sie bewacht mein Bett wie ein Ritter seine Burg, wie die römische Wölfin ihre Zwillinge. Ab und zu wird es schwierig zu zweit in dieser ungemütlichen Umgebung. Denn dann sieht sie, wie sich mein Mund beim Anlegen einer Infusion verzieht oder wie mein Lächeln verschwindet, wenn es Scheiße ist. Wenn alles nur noch Scheiße ist. »Scheiße« und »Idiot«, das ist die Poesie meiner Mutter, wenn ihr die Sorgen über den Kopf wachsen. Dann ist das ganze Krankenhaus Scheiße, und alle, die darin herumlaufen – bis hin zu den Kaffeedamen –, sind Idioten.
Auch Doktor L. kommt vorbei. Am liebsten mit seinen werten Kollegen, dann kann er in der Mittagspause, an einem Käsebrötchen kauend, seine Erkenntnisse mit ihnen diskutieren.
»Dich muss man jedes Mal erst suchen. Ist das deine neueste Errungenschaft?« Er lacht kurz, macht einen Witz und kommt zur Sache.
Ich nicke stolz. »Blondie heißt sie.«
Sie baumelt am Infusionsständer, den ich auch als Garderobenständer benutze. Mein Bademantel hängt auch daran und ein gelber Beutel. Die Lehrlinge meines Arztes kichern leise. Doktor L. ebenfalls. Mein berühmter Verwandlungstrick zieht immer.
Die Grundlage unserer Kontakte ist zwar medizinischer Natur, aber unsere Beziehung ist ausgesprochen persönlich. Für mich zumindest. Die Stunden, die ich mit Doktor L. zusammen war, bin und noch sein werde, sind die ehrlichsten meines Lebens. Er kennt meine emotionalsten Momente, die Tränen, die Angst und die Freude. Das Anschnauzen, wenn ich ihn nur noch zum Teufel wünsche mitsamt seinem weißen Scheißzimmer und seinem Scheißkugelschreiber aus Surinam.
Ich wüsste gern, womit er sein Butterbrot belegt. Und wie das Haus aussieht, in dem er morgens aufwacht. Und wie er von diesem Haus ins Krankenhaus kommt. Inzwischen habe ich erfahren, dass er in einem Dorf mit O wohnt und mit dem Zug hin- und herfährt. Komisch. Der Mann ist dermaßen wichtig für mich, dass ich mindestens ein Auto mit dunkelgetönten Scheiben und Chauffeur erwartet hätte. Und nicht einen chaotischen Morgen mit Broteschmieren für die Kinder, Unterlagen zusammenraffen und auf den letzten Drücker losrennen zum Bahnhof, um Menschenleben zu retten.
Doktor K. kommt nur noch in meinen Träumen vor und ab und zu in den Wandelgängen der Klinik oder an der Anmeldung seiner Ambulanz, an der ich jeden Tag vorbeimuss, wenn ich zu Doktor L. gehe. Zu dumm, dass ich nach all den Ärzten aus all den Fachgebieten schließlich bei einem ruppigen Onkologen gelandet bin.
Ich liege schon den ganzen Vormittag im Bett; um mich herum herrscht reger Betrieb. Es ist mein erster Tag, aber mir reicht es jetzt schon. Ich stinke, mein Kopf dreht sich, und ich bin voller Bitterkeit, wenn ich an die Pläne denke, die ich noch habe.
Hatte.
Habe.
Hatte.
Eins von beiden. Ich rümpfe die Nase. Zur Bekräftigung hebe ich kurz den Arm und wende mein Gesicht dann wieder ab. Zwei Tage hänge ich nun schon am Tropf. All die schönen Cremes und Eau de Toilettes, die ich ins OLVG mitgenommen habe, können gegen den penetranten Schweißgeruch von der Chemo nichts ausrichten. Auch mein Urin stinkt – Chemopipi nennt Pauke das. Und an den Geruch werde ich den ganzen Tag erinnert, weil ich hier in einen Nachttopf pinkle statt in eine ausgewachsene Toilette. Am Anfang habe ich noch versucht, den
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