Heute bin ich blond
jedenfalls ihren Blicken. Sie wissen, dass ich nicht von irgendeiner Station komme, sondern von der onkologischen, wo die Leute mit Krebs herumlaufen. Diese Konfrontationen sind das Schlimmste, vielleicht das Allerschlimmste an der ganzen Krankheit. Man wird so brutal mit der Nase auf die Tatsachen gestoßen. Auf die Tatsache, dass das hier für all die anderen irreal, für mich aber real ist.
Ich drehe mich um und gehe, so schnell ich kann, in meine einsame Welt zurück, die mir nun noch einsamer vorkommt.
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Montag, 11. April 2005
In meinem Kalender lese ich »Woche 11« von den vierundfünfzig und »Woche 2« vom zweiten Block des zweiten Semesters Politologie. Im Sommer nach dem Abitur – vor fast vier Jahren – habe ich eine Reise nach Tibet gebucht. Mein Interesse für dieses Land war irgendwo zwischen den Büchern von Hermann Hesse und einer heftigen Verliebtheit erwacht. Die einzige Möglichkeit, dorthin zu kommen, war eine organisierte Gruppenreise – Abenteuer mit Rentnern. Sie begann in Peking und endete in Kathmandu, und ich hängte noch zwei Monate Nepal und drei Monate Indien dran. Danach wusste ich: Ich hatte mein bescheidenes Abizeugnis nicht umsonst bekommen; ich wollte Politologie studieren, um mehr über das Unrecht in der Welt zu erfahren.
Ich bin immer noch immatrikuliert, rausgeworfenes Geld, aber bei dem Wort Exmatrikulation kommen die Tränen gleich zu Tausenden. In jedem Studienjahr muss man sechzig Punkte erreichen, auf mehrere Lehrveranstaltungen verteilt. In der Politologie sind es gewöhnlich sechs Veranstaltungen zu zehn Punkten, in anderen Fächern gibt es auch Veranstaltungen zu fünf Punkten. In meinem ersten Studienjahr habe ich – an einer anderen Fakultät – mit Internationaler Wirtschaft angefangen, gerade weil ich davon nichts wusste und meinen Abschluss in Entwicklungszusammenarbeit innerhalb der Studienrichtung Internationale Beziehungen machen wollte. Aber nach dem ersten Semester bin ich nicht mehr hingegangen. Weil ich als Studentin im dritten Jahr nicht nur gern in Straßencafés, sondern auch mit anderen Fächern flirte, habe ich mich jetzt, um überhaupt weiterzumachen, für ein neues Seminar eingeschrieben: Entwicklungsökonomie 2. Als gäben mir die Entwicklungen in meinem Körper nicht schon genug Stoff zum Denken.
In der ersten Seminarsitzung besprechen wir den Plan für die kommenden zwei Monate. Ich werde gleich für ein Referat eingeteilt, genau in der Woche, bevor ich für mein Etoposid und andere Wundermittel wieder flach liegen muss. Ich zupfe ein bisschen an meinen Haaren, Blondie heute, während ich der Einführung des Dozenten lausche. Ich gerate ein bisschen in Verwirrung. Sowohl von den vielen Ypsilons und anderen Variablen vor meiner Nase als auch davon, dass ich mit dem Gedanken hier sitze, vielleicht in ein paar Monaten zu sterben. Ich frage mich, wie lange ich das durchhalten werde, und dabei wird mir klar, dass ich mich nicht mehr abhetzen will, so paradox das im Moment auch klingen mag. Ich brauche nicht mehr so viel, und alles erscheint mir schnell als bloßes Getue. Ich will keine To-do-Listen. Mehr noch: Ich hasse To-do-Listen. Ein Mädchen, das in den Niederlanden wohnt und Niederländisch spricht, braucht kein Englisch und Französisch und Hindi und Mandarin und all den Quatsch. Und ich will überhaupt nicht mit einer Perücke auf dem Kopf in einem Seminar Entwicklungsökonomie 2 sitzen und relativieren.
Ich habe mich so abgehetzt und schon so viel gemacht und getan; jetzt will ich mal zur Besinnung kommen. Jetzt will ich ein bisschen mehr bei mir selbst bleiben. Meinen eigenen Krebskopf zum Beispiel, den verstecke ich immer noch.
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Dienstag, 12. April 2005
Dass alles anders geworden ist, zeigt sich nicht nur an meiner neuen Lebensphilosophie, sondern auch an meinem Korb voller Perücken. Aber einiges ist doch gleichgeblieben. Zum Glück. Ich pinkle nach wie vor unter der Dusche. Herrlich, sich mit voller Blase drunterzustellen und einfach loszulassen. Gestern habe ich Spargel gegessen. Und heute, beim morgendlichen Pinkeln, wurde ich wieder daran erinnert. Das wird immer so bleiben.
Morgens hatte ich noch nie die Ruhe weg. Die Geduld, mich zurechtzumachen, meine ich. Nur ein bisschen Wimperntusche und Rouge. Ich liebe den Morgen, aber in einem Café, mit einer Zeitung und einer Tasse Kaffee oder natürlich lieber grünem Tee. Ruhe für Cremes und raffinierte Make-ups ist mir fremd.
April 2005, und auch ich
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