Heute bin ich blond
so anonym erleben konnte. Der Junge neben mir sieht ein quicklebendiges junges Mädchen mit einer hippen Frisur. Über mehr als Discobeats und Chucks haben wir nicht gesprochen.
»Was machst du eigentlich?«
»Ein Sabbatjahr.«
»Oh. Cool.«
Nichts von der Einsamkeit, die ich fühle, weil ich aus meiner Geschichte ein Geheimnis mache. Nichts von dem geheimnisvollen rothaarigen Mädchen, das er sehr glücklich gemacht hat, als er eben beim Küssen durch ihre Haare gefahren ist, ohne etwas von ihrer wahren Welt zu wissen. Ohne zu ahnen, dass er nicht nur Sues Herz erobert hat, sondern auch das von Daisy, Stella und Blondie.
Mit einem langen Zungenkuss verabschieden wir uns. Ich steige aus dem Taxi und kehre in meine eigene Welt zurück. Übermorgen muss ich mich wieder im OLVG melden. Der swingenden Krawatte habe ich gesagt, ich fahre eine Woche in Urlaub. Mit meinem Reisekoffer zum Flughafen und last minute nach Marrakesch.
Wenn er wüsste, dass diese Story ein Traum von mir geblieben ist und dass ich nur drei Straßen von ihm entfernt im Krankenhaus liege. Drei Straßen und eine ganze Welt, die ich beim Tanzen mit ihm völlig vergessen konnte.
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Sonntag, 5. Juni 2005
Romantisch, wie ich bin, phantasiere ich schon seit einigen Wochen von einem netten Krebsfreund. So einem wie Jur oder sogar einem, der seine Tumoren noch nicht hinter sich gelassen hat. Der mit mir zusammen im Krankenhaus aus und ein humpelt, die Ärzte mit Fragelisten nervt und mich in den Arm nimmt, wenn ich nachts einsam im Bett liege und vor Angst heule. Jur hat mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, ob ich einen Freund habe. »Nein, aber gute Freunde«, habe ich geantwortet.
Jetzt erst verstehe ich seine Frage. Meine Freunde trinken zwar Kaffee mit mir und besuchen mich regelmäßig im Krankenhaus, aber abends gehen sie wieder zurück in ihre eigenen vier Wände. In ihr eigenes Bett. Dann bleibe ich mit meiner Angst allein.
Dank Jur kann ich diese Angst jetzt von einer anderen Seite sehen. Ich kann auf sie zeigen, sie benennen und sie dadurch angehen. Das Kranksein erhält eine Funktion, aus Angst wird Mut. Der Mut, den es braucht, um mit Krebs leben zu lernen, mich also mit meinen Ängsten anzufreunden. So hat Jur die Leere in mir, diese verdammte Einsamkeit, zum großen Teil vertrieben. Nach einem Gespräch mit ihm komme ich mir vor, als sei ich jedem Krebs gewachsen. Als sei er ein Geschenk und keine Strafe. Eine Prüfung. Ich kann Jurs magische Wirkung auf mich nicht beschreiben. Nennen wir’s Spiritualität. Nennen wir’s ein Wunder. Nennen wir’s Jurriaan.
Er sitzt schon bei Apfelkuchen mit Sahne draußen vor dem De Winkel. Heute hat er ein knallgrünes T-Shirt an, das sich schön gegen seine dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr gebräunten Arme abhebt. Sein dunkles Haar fällt ihm lässig in die Stirn. »He, neue Haarfarbe?«
Ja, ich kann auch mit ihm lachen. Heute habe ich Sue zu einem Pferdeschwanz gebunden. Seit ein paar Tagen nehme ich lieber Sue als Daisy oder Blondie, weil da, wo meine Augenbrauen und Wimpern sein sollten, nichts mehr wächst. Wir geben uns drei Küsse auf die Wangen, dann legen wir los mit Dactinomycin, Dexamethason, Metastasen und anderen Unannehmlichkeiten. Jur mustert mich eingehend und meint dann, diese Perücke finde er am schönsten.
Ich bin nicht entspannt, ich will ihm sagen, dass ich mich nachts so allein fühle und mich danach sehne, mich mit meinem ganzen Kummer an ihn anzulehnen. Aber ich schweige und behalte meine Gedanken für mich, aus Angst, diese wichtige Stütze abzuschrecken.
Ich habe meine Krankenakte mitgebracht, und Jur beginnt gleich darin zu blättern. Ich weiß nicht, ob ich mehr Wert auf das Wissen lege, das er während seiner Krankheit oder während seines Medizinstudiums erworben hat, aber die Kombination wirkt hervorragend. Alle Entscheidungen meines Arztes werden durchgesprochen, und mir wird immer klarer, warum sich der Arzt mit optimistischen Äußerungen so zurückhält.
»Bringt das was, ein Port? Der Arzt hat das große Wort ausgesprochen, weil ich so schwer zu stechen bin.«
»Kriegst du einen?«, fragt Jur.
»Am Dienstag, das Stechen wird immer schwieriger.«
»Das ist ein Kästchen, das mit einem kleinen Schlauch über die Subclavia« – die Arterie unter dem Schlüsselbein – »mit dem Herzen verbunden ist.«
»Aha. Und auf Niederländisch?«
»Ich hatte auch einen. Hier saß der.« Jur zieht sein T-Shirt hoch. Eine behaarte Brust, auch
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