Heute bin ich blond
mal vor.« Im Finch versuche ich Annabel zu erklären, dass das Kästchen, das man mir über der linken Brust einsetzen will, wahrscheinlich weiter vorstehen wird als mein Cup A. Wir müssen beide laut lachen.
»Schaut da auch ein Schlauch raus?«, fragt Annabel, um die Sache noch lustiger zu machen.
Wieder müssen wir lachen.
»Ach, was kratzt dich das Ding, Hauptsache du wirst wieder gesund.«
»Ich hab Angst.«
»Ich auch. Aber schau dich mal an, du siehst phantastisch aus.«
Ich lächle. Annabel hat recht, ich sehe ein ganzes Stück gesünder aus als im Januar, als der Krebs am größten und bedrohlichsten war. »Trotzdem hab ich Angst. Dass meine Tumoren noch kleiner werden, glaub ich ja, aber was ist, wenn sie nicht ganz weggehen?«
»Es gibt keinen Grund, an so was zu denken.«
»Nein, aber ich denke trotzdem oft dran.«
Annabel steht auf und fasst mich am Arm. »Wann ist die Untersuchung?«
»Am Mittwoch.«
»Und wann kriegst du das Ergebnis?«
»Am Montag.«
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Mittwoch, 1. Juni 2005
»Guten Morgen, Sie sprechen mit Doktor van der Stap, können Sie mich bitte mit Doktor L. verbinden?«
Hinter einer der vielen Betonsäulen in der Eingangshalle des OLVG versteckt, rufe ich bei der Anmeldung an. Zum Glück kann mein Arzt darüber lachen. Er und seine werten Kollegen wissen am besten, wie sehr die Bürokratie das moderne Krankenhaus bedroht. Anno 2005 ist der Keller des OLVG noch immer vollgestopft mit Krankenakten. Ich fürchte, daran bin ich nicht ganz unschuldig. Das Wandern von Ambulanz zu Ambulanz macht das Wiederauffinden meiner Akten zu einer scheinbar unlösbaren Aufgabe. Vier davon liegen inzwischen irgendwo herum.
Doch auch das OLVG kennt Innovation. »Nein, da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Dazu brauche ich Ihre Karte.«
Ich leiere brav meine Patientennummer herunter und erkläre vorsichtig, dass ich die Karte nicht finde. Wenn ich bedenke, wie oft sie schon aus einer Tasche, einer Hosentasche oder dem Portemonnaie geholt worden ist, bin ich ganz stolz, dass ich erst zum dritten Mal Schlange stehen muss, um mir eine Neue ausstellen zu lassen.
»Nein, seit Montag haben wir hier ein neues System, jetzt muss alles gescannt werden. Ohne Karte kann ich nichts für Sie tun.«
Das Formular für meine Untersuchung – von meinem Arzt selbst ausgefüllt – liegt bereits auf seinem Schreibtisch. FRAU VAN DER STAP 08.00 UHR steht darauf. Es ist schon sieben vorbei. Seit sieben Minuten werfe ich meine blonden Locken in den Kampf. Vergeblich – ich stehe wieder in der altbekannten Schlange, um eine neue Karte zu beantragen. Mein Herz schlägt von Minute zu Minute schneller. Anstehen für meine Prognose – viel verrückter kann’s nicht mehr werden.
»Das macht dann fünf Euro.«
»Entschuldigung«, sage ich, »muss ich für den Quatsch jetzt auch noch zahlen? Meine Karte liegt zu Hause.«
Das Kopftuch am Schalter verzieht keine Miene. Selbst die Wimpern verharren in Wartestellung.
Aber ich pfeife auf das Geld. Mit Tränen in den Augen nehme ich meine neue Karte entgegen.
08.14 Uhr. Mist. Ich darf nicht zu spät kommen. Ich versuche meinen werten »Kollegen« anzurufen, aber es meldet sich niemand.
08.17 Uhr. Ich eile im Laufschritt zur Anmeldung und dränge mich an mehreren alten Leuten und anderen Hindernissen vorbei, die mir den Weg versperren. Ich bin schließlich wichtiger, oder?
»Oh, Frau van der Stap, alles in Ordnung, ich hab Ihr Formular gefunden. Ich wusste nur nicht, dass Sie das sind.«
Dass ich wer bin? Das Mädchen auf dem Formular? Dumme Gans. Angespannt gehe ich zu einem leeren Stuhl. Es ist voll. Ich bekomme eine Kanne Wasser mit radioaktivem Zeug darin. Die muss ich austrinken. Einen Liter Wasser in einer Stunde. Ich verstehe nicht – letztes Mal habe ich eine Infusion mit radioaktivem Zeug darin bekommen. Der alte Mann – so einer, der sich seit seiner ehrenamtlichen Tätigkeit im OLVG wieder anerkannt fühlt – versucht mir zu erklären, warum ich diesmal eine Kanne statt einer Infusion bekomme.
»Die muss ganz ausgetrunken werden.«
»Und warum?«
»Ja, die muss ganz ausgetrunken werden.«
Schließlich beruhigt mich ein Mitarbeiter, der ein Gehalt bezieht und besser versteht, warum ich nicht begreife. »Wir untersuchen heute auch das Abdomen« – den Bauch – »und dafür werden andere Mittel eingesetzt.«
Ich nehme Platz. Nichts, eine Stunde lang. Nichts, nur dasitzen, warten und Wasser trinken.
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Freitag, 3. Juni
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