Heute bin ich blond
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Mittwoch, 8. Juni 2005
Ich sehe immer mehr wie eine Krebspatientin aus. Jetzt habe ich nicht mehr nur einen Kahlkopf, sondern auch Narben. Das Ding fasziniert mich, das da über meiner Brust vorsteht und durch einen Schlauch mit meinem langen Freund verbunden ist. Den ganzen Tag betaste ich es und spiele damit. Unbehaglich schiebe ich es zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her und probiere vorsichtig aus, wie weit es sich bewegen lässt.
Ich habe Krebs immer mit langweiligen grauen Wollsocken assoziiert, zu Unrecht, wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat. Sogar meine schöne Mama und Kylie Minogue sind an Krebs erkrankt. Sogar ich. Vielleicht ist diese unsinnige Assoziation durch die Gesprächsgruppen und anderes entstanden, was angesichts dieser schlimmen Herausforderungen des Lebens als Ventil dient. All das ruft nach Spiritualität. Das eine oder andere spirituelle Abenteuer schreckt mich nicht, aber mich arme junge Krebspatientin hinter einer Mauer von Taoismus und Buddhismus von der normalen Welt abzuschotten, das fände ich schrecklich. Als hätte ich meinen Weg freiwillig eingeschlagen, ihn voll und ganz akzeptiert.
Bis jetzt habe ich mich nicht groß von meinen Altersgenossen abgesondert. Alles ist anders geworden, aber im Grunde auch wieder nicht. Ich stehe immer noch genervt in den engen Umkleidekabinen bei Zara, gehe noch in die Sonne und lese regelmäßig die
Vogue
und andere Frauenzeitschriften. Denn all diese Dinge sind nach wie vor wichtig. Sehr wichtig sogar, um die Realität nicht aus den Augen zu verlieren. Die Realität des Mitmachen- und Weitermachenwollens. Des Überwindens der Einsamkeit, mit der ich einfach nicht klarkomme. Schon der Gedanke ist schrecklich, ich würde meinem alten Leben Adieu sagen und mich ganz der tibetischen Bibliothek, der Naturheilkunde oder der Lehre O. C. Simontons zuwenden, eines bedeutenden Gurus für Krebspatienten. Ich versuche, all die angeblich so unwichtigen Dinge weiterhin wichtig zu nehmen, mich möglichst wenig von dem abzusondern, was andere mit Anfang zwanzig tun. Und einfach weiterzuleben, ohne allzu viel Krebs.
»Hallo, Süße, gut geschlafen?« Die Stimme meiner Schwester, ein strahlendes Lächeln. Sie hat einen schleifengeschmückten Korb voller Leckereien dabei, denn heute hat unsere Mutter Geburtstag. Ich am Samstag. Mein vertrottelter Nachbar schaut auf, und auch die Nachbarin ist irritiert.
»Küsschen!«, rufe ich aufgedreht und strecke die Arme aus. Im Theaterspielen bin ich ganz groß. Zus kann’s nicht lassen, jedes Mal ein paar Tränen zu zerdrücken, wenn sie mich umarmt, auch heute nicht. Sofort kriecht sie zu mir ins Bett. Da bleibt sie so lange, bis sich der nächste Besucher anmeldet. Sie füttert mich mit Pasta – von dem Krankenhausessen fällt man noch mehr vom Fleisch als von der Chemo – und greift dann nach dem roten Nagellack für meine Zehen.
Ich erzähle ihr von meiner neuesten Phantasie über Doktor K. Zus erzählt mir von ihrer Zukunft als Expat-Frau und davon, dass sie vorhat, mehr zu sein als nur eine Expat-Frau. Sie macht ein Praktikum. Sechs Monate, im Wolkenkratzer der ING in Hongkong. »Sechs Monate meines ganzen Lebens sind nicht viel«, meint sie.
»Nein?«
Ihr Freund ist Expat – fast so schick wie Diplomat – und wird alle zwei Jahre woandershin geschickt. So haben meine Schwester und er sich kennengelernt, aber aus demselben Grund werden sie auch immer wieder auseinandergerissen. Dann reist meine Schwester ihm nach. Und ich auch.
Wir haben den Vorhang um das Bett ganz zugezogen und reden leise, um die anderen nicht zu stören, und noch mehr, um selbst nicht gestört zu werden. Vorsichtig streicht Zus über meinen Hubbel. »Kriegsverletzungen« nennt sie die Narben, die ich von diesem Kampf zurückbehalte. Symbolik ist bei meiner Schwester gut aufgehoben. Wahrscheinlich meint sie sogar die emotionalen Wunden und nicht mal meine körperlichen Narben. Wo ich von »Krebs« rede, redet sie von »grauem Licht«. Das gibt unser beider romantisches Einfühlungsvermögen ziemlich genau wieder. Meine Schwester ist gut im Dramatisieren mit Worten. Das kann sie im Übrigen auch von mir sagen, so oft wie ich das Wort Krebs in den Mund nehme. Da hat jede von uns ihre eigene Prosa.
Es ist schön, dass Zus sich wie ein Engelchen an meine Schulter kuschelt, wenn das »graue Licht« um die Ecke schaut. Wenn es um die Familie geht, ist Zurückhaltung nicht mehr angesagt. Zus
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