Heute bin ich blond
Gemütszustand die Kälte zu nehmen. Aber über das »Wenn alles schiefgeht« zu sprechen ist, als wollte ich Alarm schlagen, um nicht zu vergessen, dass mein Sarg vielleicht schon ganz nahe ist. Zu erörtern, was für ein Sarg am besten zu mir passt, das ist, als würde man über Dinge reden, über die man bei einem Glas Tomatensaft in einem Amsterdamer Straßencafé nicht spricht. Nein, da rede ich lieber von meiner neuesten Frisur oder von meinen neuen Sommersandalen.
Wenn ich nur an diesem Tag noch dabei sein darf, und sei es nur, um plötzlich aus der ekligen Buttercremetorte zu springen und die Traurigkeit in ein einziges großes Fest zu verwandeln. So macht man das in anderen Ländern. In der Karibik zum Beispiel. Einfach weiter tanzen und flirten. Warum über das Sterben weinen, wo wir doch wissen, dass es kommt? Warum nicht das Leben feiern? Mein Leben? Es ist kurz, aber es ist schön genug, um mit einem breiten Lächeln daran zurückzudenken. Ich stehe auf, mache mich auf die Suche nach der goldenen Bluse und finde sie am fünfundfünfzigjährigen Körper meiner Mutter. »Wie findest du den Rock? Und die Bluse?«
Meine Mutter und ihre Freundin Maud verkleiden sich gern.
»Der Rock sieht gut aus, aber die Bluse ist nichts. Die ist dir zu klein, die wäre eher was für mich.«
Ich will wieder tanzen und flirten. So wie früher, nur eben mit Perücke. Und so wie früher will ich in die unbekannte Nacht eintauchen, mit ungewissem Ausgang. Der Juni ist angebrochen, die Sonne scheint länger, der Wind wird immer sanfter und wärmer. Frühlingskribbeln vom Bauch bis in die Zehen. Angesteckt von Mauds Rock und der goldenen Bluse, ziehe ich ein Glitzershirt aus einem Kleiderstapel auf dem Boden. Ich nehme mein Handy, verschicke eine SMS mit dem Vermerk »eilig« und mache mich auf die Suche nach einer passenden Jacke.
Ich laufe die Treppe zum Rain hinauf – einem neuen Club im alten Casino am Rembrandtsplein –, noch etwas ungewohnt und doch so, als wäre ich nie weggewesen. Ich habe meinen schönsten Rock angezogen und mir Sues wilde rote Mähne aufgesetzt. Meine eigenen Wimpern sind inzwischen alle weg, aber die falschen sind länger und schöner. Und für ein bisschen Fake habe ich was übrig. Der Glitzer an meiner Jacke tanzt im Schummerlicht des Clubs. Die Sonnenbräune aus der Flasche hat mir das nötige Selbstbewusstsein gegeben, um den neuen Nachtclub mit möglichst wenig Stoff am Leib zu betreten. Nur die Gänsehaut an meinen Armen verrät meine Nervosität, aber da ich auch dort keine Haare mehr habe, sieht man sie nicht.
Das Licht im Rain ist schummrig und stimmungsvoll. Das schafft die Distanz, die ich suche. Ich will in die unbekannte Nacht eintauchen, alles vergessen und einfach genießen, wie ein Mädchen ohne Geschichte.
Auf meinem Teller schwimmt ein Seeteufel in sahniger gelber Soße. An meinem Tisch sitzt Arthur. Arthur ist Trendwatcher von Beruf, so einer, der immer auf Achse, immer am Tun und Machen ist und nie sesshaft wird. Arthur lädt mich gern zu einem Essen mit einem guten Glas Wein und einem guten Gespräch ein. Als er den letzten Rest aus der Flasche eingeschenkt hat und auch die anderen Gläser auf dem Tisch leer sind, gehen wir zu Mojitos über. Arthurs Freund, der später dazukommt, meint, der ganze Wodka müsste meine Krebszellen doch abtöten, sofern die Chemo es noch nicht getan hat. Ich werde das mal meinem Arzt vorschlagen.
»Gesund leben, Sophie«, hat Doktor L. gesagt. »Gut essen und viel schlafen; vor allem viel Ruhe musst du deinem Körper gönnen. Da drin tobt ein großer Kampf.«
Ich trinke noch einen Schluck Wodka. Nach vier Monaten Bravsein schmecken die Minzeblätter und der braune Zucker himmlisch. Der Alkohol rutscht ohne jedes Schuldgefühl meinerseits hinunter; heute Abend ist er Nahrung für den Geist.
Auf der Tanzfläche verlieren Arthur und ich uns bald aus den Augen. Er kommt mit einer früheren Klassenkameradin von mir ins Gespräch. Sie ist lang und dünn und auf Schlagsahnediät, seit ich sie kenne. Tja, so geht’s auch. Ich suche die Tanzfläche ab, und meine Augen bleiben an einer swingenden Krawatte hängen. Ich lasse Arthur zurück und werfe mich mit meinen roten Haaren, die im Rhythmus der Musik fröhlich hüpfen und mich am Hals kitzeln, ins Gefecht.
Die swingende Krawatte hat schnurrend den Kopf in meinen Schoß gelegt, ich selbst liege halb schlafend im Taxi. Angenehm betrunken von den Wodkas, aber auch von dem Abend, den ich
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