Heute bin ich blond
2005
Noch zwanzig Minuten, dann werde ich in der chirurgischen Ambulanz erwartet. Am Labor, auf der Route Onkologie – Espresso-Ecke, ziehe ich die Nummer 871 für meine wöchentliche Blutuntersuchung. Noch acht Nummern vor mir. Kein Problem, es ist ruhig hier. Von der neugestylten Kaffee-Ecke des OLVG – alles hat sich dort verändert, nur nicht die alten Kuchen hinter der Theke – kann ich gerade noch sehen, wann ich dran bin. Ein Kaffee und zwei Becher Milch, dann darf ich rein. Die Frau nimmt mir drei Röhrchen Blut ab, klebt Schildchen drauf und stellt sie weg. Die drei Blutwerte auf dem Formular lese ich über Doktor L.s Schulter mit, den Rest lasse ich. Es sind Thrombozyten, Leukozyten und rote Blutkörperchen, also der HB -Wert.
Mit meinem verpflasterten Arm melde ich mich in der chirurgischen Ambulanz. Viel OLVG heute, aber das bedeutet weniger OLVG an den anderen Tagen.
Brav folge ich der Schwester in das bekannte Kabuff. Nur dass es in einer neuen Ambulanz ist, bei einem neuen Arzt. In tapferer Erwartung sitze ich da. Fünf Minuten später geht die Tür auf, und ich konzentriere mich auf das blendende Aussehen meines neuen Arztes. Ein neuer Held, keine Frage: ein schöner junger Kopf, kräftige Arme, schmale Hüften und Schuhe ohne Löcher. Und da grämt sich Daisy wegen Doktor K. Gebt mir Doktor Schöne-kräftige-Arme aus der Chirurgie statt eines Familienvaters mit Lochmusterschuhen, der am Vatertag schon besetzt ist.
Auch der Chirurg verarbeitet meine Daten zu einer neuen Akte. Dann klärt er mich über den Eingriff auf: ein Schnitt über der Brust, das »Kästchen« rein und wieder zunähen. Jawohl, Doktor L. hat beschlossen, mir eine Extratitte anzunähen. Portkatheter oder Port nennt sich so ein Ding. Meine Arme werden davon zwar schöner – im Moment verläuft da eine Spur toter Blutgefäße –, aber mit meinem Sommerdekolleté wird der Port ordentlich in Konflikt geraten. Wo ich doch fest entschlossen bin, meine Sommertage in Südfrankreich zu verbringen. Ich sehe mich schon mit so einem komischen Hubbel dasitzen. Noch eine Narbe an meinem Körper. Diesmal nicht von Doktor K., unauffällig am Rücken, sondern von Doktor Schöne-kräftige-Arme, an meinem Dekolleté.
[home]
Samstag, 4. Juni 2005
Heute ist Kleidertausch bei Tanja, einer Freundin meiner Mutter. Unter all den Frauen mittleren Alters, die hier um mich herumlaufen, bin ich bei weitem die Jüngste. Ich sehe Frauen mit Mann und Kindern, Frauen mit Ehescheidungen und verstorbenen Eltern, Frauen mit Formslips und Botox, Frauen mit Hängebauch und Hängebusen, Frauen mit Kindermädchen und Putzfrauen, Frauen mit hochgesteckten Haaren. Kurz, Frauen mit einem Leben, einer Geschichte.
Tanja hat die Sechzigerjahre nie hinter sich gelassen. Weder was Kleidung noch was Falten angeht. Wir trinken Kaffee, essen Pralinen und lachen. Es ist schön, diesen Frauen in den Wechseljahren beim Probieren und Anprobieren zuzuschauen, zu sehen, dass mit fünfzig noch das gleiche Mädchen in ihnen steckt wie in mir.
Dieser Gedanke lässt mich einen Moment innehalten. Innehalten in einer Zeit, die immer weitertickt, in dieser zeitlosen Welt, der wir alle entgegengehen, ich vielleicht früher als all die Hängebusen um mich herum. Ich versuche besser zu verstehen, aber je länger ich darüber nachdenke, desto ferner fühle ich mich diesen Frauen, die hier so munter um mich herumwuseln. Traurig und durcheinander werde ich davon. Durcheinander, weil die Zeit allen Geschichten ein Ende setzt und all die Geschichten vergisst. Traurig, weil die Zeit meiner Geschichte schon bald ein Ende setzen kann, um mir Ehemänner und Formslips zu ersparen. Weil die Zeit hinter dieser ganzen Maskerade vielleicht schon in einem halben Jahr einen Sarg bereitstehen hat für Daisy, Stella, Sue und Blondie. Für mich.
Schlagartig verliere ich das Interesse an dem lila Rock und der goldenen Bluse, die ich vor fünf Minuten aus einem Kleiderhaufen gefischt habe. Ich lasse sie auf einen anderen Haufen fallen und erschrecke, als ich den lila Rock in den Händen eines fremden Hängebauchs sehe, ohne ihn haben, haben, haben zu wollen. Ich möchte ihn haben
wollen
. Ich möchte, dass mir was daran liegt, noch jahrelang.
Ich hätte Lust, das Tibetische Totenbuch aufzuschlagen, so einsam das auch wäre. Nähere Bekanntschaft mit meinem Sarg zu machen – und vielleicht Freundschaft mit ihm zu schließen – scheint mir die einzige Möglichkeit, meinem heutigen
Weitere Kostenlose Bücher