Heute bin ich blond
das noch.
Ich sehe eine acht Zentimeter lange, waagerechte Narbe auf der linken Seite. »Das will ich nicht.«
»Ist aber sehr praktisch und stört überhaupt nicht.«
»Aber nur, solange man keine ausgeschnittenen T-Shirts trägt.«
Jur beruhigt mich: Man sehe so gut wie nichts davon. Aber ich habe keine behaarte Brust.
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Montag, 6. Juni 2005
An seiner Begrüßung versuche ich das Ergebnis meiner Untersuchung abzulesen. Er sieht mich etwas länger an als sonst. Sein Gruß wird von Tag zu Tag herzlicher. Allmählich finde ich den Mann sogar nett. Doktor L. lacht kurz, macht einen Scherz über Daisy und kommt dann zur Sache. »Also, es hat wieder gut gewirkt. Die Tumoren sind noch kleiner geworden. Ganz weg sind sie noch nicht, aber …«
»Sollten sie das?«
»Na, beim nächsten Mal schon. Dann haben wir in Sachen Chemo fast alles getan. Danach bekommst du nur noch eine Erhaltungschemo.«
»Aber ist es denn gut?«
»Ja, Sophie, es ist gut.« Erleichtert hole ich Luft; ich hatte sie eine Weile angehalten. Pap und ich kneifen einander leicht in die Hand. Mit einem breiten Lächeln verlasse ich den einst so angsteinflößenden Raum und gebe meiner Schwester einen dicken Schmatz.
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Dienstag, 7. Juni 2005
Als ich wach werde, dauert es noch eine Weile, bis ich realisiert habe, wo ich bin. Ich sehe eine Menge weißer Betten mit schlafenden, zerzausten Leuten darin. Dann kommt alles wieder: die OP , die muskulösen braunen Arme des Pflegers und dann der tiefe Schlaf. Aber auch die Mojitos und der dunkle Nachtclub vom letzten Wochenende. Ich bewege den rechten Arm und taste vorsichtig nach meiner linken Brust. Meiner neuen linken Brust, sollte ich sagen, denn an meiner alten ist nicht herumgedoktert worden. Ich spüre einen Hubbel mit einem großen Verband darüber, direkt unter dem Schlüsselbein. O Gott.
Fremde Schwestern laufen eilig herum. Alles ist noch etwas verschwommen. Plötzlich sitzt Oma an meinem Bett. Als sie hereingekommen ist, muss ich kurz eingedöst gewesen sein. Oma ist aufgeregt und befangen, das verraten mir ihre großen blauen Augen sofort. Wir beide hängen sehr aneinander. Wenn wir zusammen sind, vergesse ich immer, dass sie sechsundfünzig Jahre lang ein Leben geführt hat, in dem es mich nicht gab. Oma spricht nicht über Schmerz, sie findet, das gehört sich nicht, glaube ich, aber wenn ich sie danach frage, bekomme ich auch eine Antwort.
»Bist du traurig meinetwegen, Oma?«
Sie schweigt. Ihre großen eindringlichen Augen blicken nachdenklich. »Ja«, sagt sie dann.
»Oft?«
»Ach, weißt du, nichts ist mehr schön.«
Stille. Es tut weh, aber es fühlt sich auch warm an, so eng miteinander verbunden zu sein, dass meine Krankheit auch ihr Leben beherrscht. Sie bringt mir immer etwas Leckeres aus dem Naturkostladen mit. Diesmal sind es Nüsse, Rosinen und Pflaumen.
»Die sind gut für dich«, sagt sie. Vorsichtig sieht sie sich um und fragt, ob meine Eltern und meine Schwester schon da waren.
»Nein«, antworte ich, und plötzlich werde ich ganz unruhig. Die hektischen Schwestern, die ich noch nie gesehen habe, werden mir zu viel. Ich will auf meine eigene Station, in mein eigenes Zimmer und dort weiterschlafen. »Ist es groß?«, frage ich Oma, als sie sich über mich beugt, um das Werk der Ärzte zu betrachten.
Sie schüttelt den Kopf. Aber beruhigt bin ich nicht.
Später auf der Station nimmt Pauke den Verband ab. Das Kästchen sitzt an einer Stelle, an der ich es mit gesenktem Kopf gerade noch sehen kann.
»Das haben sie sehr schön gemacht bei dir«, sagt sie, als sie den Hubbel aus der Nähe betrachtet. Ich lächle und warte, bis niemand mehr im Zimmer ist, dann betrachte ich den seltsamen Hubbel ebenfalls aus der Nähe. Zwei gut sieben Zentimeter lange rosa Streifen laufen über mein Schlüsselbein, über den scheußlichen Hubbel. Zwei? Ich erschrecke. Wieder fühle ich mich verstümmelt, wie damals, als mich zum ersten Mal ein fremder Kahlkopf, der sich als mein eigener erwies, aus dem Spiegel angeschaut hat. Durchhalten, denke ich.
Ich nehme die Fotos, auf denen ich so großartig meine Mittelfinger in die Kamera halte. Die Bilder habe ich immer bei mir, für den Fall, dass ich mal nicht mehr weiterweiß, so wie jetzt. Diese Augen. Dieser Blick. Diese Mittelfinger. Nächsten Montag darf ich schon mein zwanzigstes Häkchen machen, und die fünfte Woche auf der C6 ist geschafft. Dann kommt nur noch eine, Ende Juli. Ich wische eine Träne weg und schaue
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