Heute bin ich blond
aufprobieren?«, frage ich.
»Das macht dann zweiundfünfzig fünfzig plus sechsundsechzig … hundertachtzehn fünfzig. Der Haarlack ist gratis, für Stammkunden.«
Perücken – herrlich. Sechs Perücken, sechs Namen, sechsmal so viele Freundinnen und Verehrer. Sechs Subpersonen, und hinter jeder verbirgt sich ein anderes Stück Sophie. Eine unsichere, ängstliche Sophie: Stella. Eine sinnliche Sophie: Oema. Eine immer lachende, eine wilde Sophie: Sue. Eine introvertierte Sophie: Blondie. Eine abenteuerlustige Sophie: Platina. Eine verträumte Sophie: Daisy.
An dem Tag, an dem sich herausstellte, dass ich Krebs habe, ist mein Spielfeld von der Größe einer Gymnastikhalle auf die eines Fußballplatzes gewachsen. Kein Tag vergeht, an dem mir nicht bewusst ist, dass andere an mich denken. Alle wollen mir etwas Gutes tun, ob sie mir nun einen Drink im Finch oder einen Verwöhntag im Schönheitssalon spendieren. Manchmal habe ich Angst, diese warme Decke könnte mich vergessen lassen, wie es ist, ohne ein Paar Arme an jeder Ecke durchs Leben zu gehen. Ich kann alles machen, alles sagen, alles finden. Und zum Glück alles tragen. Jeder scheint angetan, wenn er mich mit einer neuen Perücke sieht. »Die steht dir auch gut. Schön, wie du mit der Krankheit umgehst.«
Meine Perücken helfen mir zu verbergen, was ich verbergen will, und den Mut aufzubringen, das zu sein, was ich sein will. Mit der Perücke, die ich aufsetze, schaffe ich den Spielraum, den ich dafür brauche. Das Chaos in meinem Kopf, aus meiner Neugier geboren, gleicht immer mehr einer Einbahnstraße mit Abzweigungen als dem Labyrinth, in dem ich mich bis vor kurzem blindlings fortbewegt habe.
Die Zeit des Versteckspielens ist vorbei. Ich genieße es in vollen Zügen, eine Frau zu sein. Herumzunörgeln, zu flirten, Aufmerksamkeit zu erregen. Das erleichtert die Situation für beide Seiten. Manchmal ist es so schwer, anderer Leute Probleme zu verstehen. Dann hilft eine auffällige Perücke, denn besser kann ich meine Verletzlichkeit und damit mich selbst nicht zeigen.
Voll Stolz betrachte ich meinen synthetischen Kopf. Ich steige aufs Rad und fahre zu Rob und Jan ins Straßencafé.
Sie strahlen. Jan mag das Verrückte, Auffällige, Rob mag mich. Und als Platina bin ich ein bisschen von beidem.
»Vielleicht hab ich Krawatte verschreckt.«
»Hast du ihn noch mal wiedergesehen?«
»Ja, gestern, im De Winkel. Aber er hat mich nicht erkannt, ich hatte Blondie auf.«
»Und was hast du gesagt?«
»Experimenteller Frisör. Er findet mich hip, glaub ich. Oder total gestört.«
»Du bist so ein Schatz. Komm mal her.« Rob gibt mir einen dicken Schmatz auf die Schläfe und umarmt mich so heftig, dass es ungemütlich wird.
»Süße?«
»Ja?«
»Nichts.«
[home]
Mittwoch, 15. Juni 2005
Mit einer Jutetasche stehe ich in dem Reformhaus in der Westerstraat an der Kasse. Von Krebsdiät halte ich nichts. Ich glaube nicht daran. Da behauptet jeder lautstark, er wisse es so viel besser als die anderen. Aber an Vitamine glaube ich, an biologischen Anbau, Antioxidantien, Apfelkraut und Rote Bete.
In meinem Korb liegen Haferflocken, Quinoa, Hirse, Leinsamen, Sesam, Kürbiskerne und Ziegenmilch. Ich bin noch in der Anfangsphase und daher überrascht, dass ich heute Morgen einen ganzen Fenchel durch den Entsafter pressen konnte. Und ich frage mich noch, was die anderen mit Hirse, Buchweizen und Quinoa machen. Zufrieden mit meinen gesunden Einkäufen schaue ich in den Korb der Frau neben mir: Algen, nichts als Algen. Hinter der Theke Tabletten: Spirulina, Chlorella, Aloe vera, Ginseng und noch viel mehr Chinesisches. Entmutigt belausche ich das Gespräch zwischen meiner Nachbarin, die offenbar Chinesisch spricht, und dem Gesundheitsapostel in Birkenstocks – ungelogen – hinter der Theke. Ein paar von den Tabletten verschwinden in ihrer Jutetasche. Ich seufze; das Chinesische lasse ich erst mal.
Auf dem Nachhauseweg werfe ich einen Blick in eines der vielen Yogazentren in der Gegend. Yoga gehört auch dazu, wenn man »fit und gesund« sein will. Und heute arbeite ich meine Liste ab. Yoga – ein schönes Wort. Mit steifen Gliedern versuche ich mich auf meiner faltbaren Yogamatte immer noch weiter zu dehnen. Denn das ist Yoga: dehnen, dehnen und nochmals dehnen, so weit, wie meine Muskeln es zulassen. Nicht nur Arme und Beine, sondern auch Finger und Zehen.
Nach Yoga kommt Meditation. Puh … Meditation – was für ein langer Weg. Jedenfalls
Weitere Kostenlose Bücher