Heute schon geträumt
Knochenjob. Man muss ständig hochkonzentriert sein, versuchen, die richtige Balance zwischen Arbeit und Vergnügen zu finden, über den Kunden reden und sich über den jüngsten Trennungsklatsch austauschen. »Er hat was getan! Nein! Das ist ja grauenhaft! Du Ärmste! Du solltest ein paar Tage wegfahren. Dir ein Wellness-Wochenende gönnen. Wo wir gerade dabei sind: Ich kenne da ein ganz tolles Resort in Schottland, für das wir die PR machen.«
Gegen drei sitze ich wieder am Schreibtisch und verbringe den Rest des Nachmittags vor meiner Tastatur. Beatrice macht um Punkt sechs Feierabend. Montags geht sie in ihren Salsa-Kurs, außerdem ist sie in Pablo, den brasilianischen Tanzlehrer, verliebt. Immer wenn sie von ihm spricht, setzt sie diesen völlig übertriebenen südamerikanischen Akzent auf, superdramatisch mit gerolltem R und Lispeln und alldem, und wirft sich das Haar über die Schultern, was bei ihrem kurzen Bob eine ziemliche Herausforderung ist. Die Verwandlung ist wirklich unglaublich. Es ist, als werde die kühle, vernünftige English Rose mit den kräftigen Waden schlagartig zur temperamentvollen Latina-Verführerin. Ich hätte schwören können, dass ich vorhin ein Paar Netzstrümpfe in ihrer Handtasche gesehen habe. Bea in Netzstrümpfen. Meine Fantasie kennt keine Grenzen.
Wie gewohnt beginnt Beatrice, mich zu »ermutigen« (wie sie es ausdrückt), mit ihr gemeinsam das Büro zu verlassen, indem sie sämtliche Lichter ausknipst, obwohl ich noch am Schreibtisch sitze. Subtilität ist nicht Beas Ding. Glauben Sie mir - sie hätte den Stecker an meinem Computer rausgezogen, wenn ich sie nicht erfolgreich verscheucht hätte, indem ich behauptet habe, ich würde nur noch kurz das Meeting für morgen vorbereiten und in fünf Minuten auch Schluss machen.
Natürlich schinde ich nur Zeit, und das weiß sie ebenfalls, aber während sie sich an anderen Tagen neben mir aufgebaut und gewartet hätte, bis ich es endlich tue, ist die Aussicht auf Pablo und die Salsa-Klänge wesentlich reizvoller, deshalb ist sie schneller weg, als ich »Salida Cubana« sagen kann.
Was heißt, es ist kurz vor acht, als ich endlich meinen Computer herunterfahre, meine Sachen packe und gehe. Und auch nur, weil Miles schon zweimal aus dem neuen Gastropub angerufen hat und wissen wollte, wo ich bleibe. Ich lüge und behaupte, ich sei in fünf Minuten da.
Dabei sind es zehn.
Jaaaa, okay, zwanzig. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme.« Als ich den Pub betrete, sehe ich Miles an der Bar sitzen. Er hat bereits eine Flasche Wein für uns bestellt und ist in die Immobilienbeilage des Evening Standard vertieft. Er hebt den Kopf und lächelt mich an, und ein Gefühl der Wärme durchströmt mich.
»Die moules sind leider schon aus«, erklärt er freundlich, als ich mich über ihn beuge, um ihn zu küssen. Er duftet nach Aftershave, und die weichen blonden Bartstoppeln, die ihm seit der letzten Rasur (wahrscheinlich vor ein paar Tagen) gesprossen sind, kratzen ein klein wenig. Miles hat fast so feines Haar wie ein Baby. Er ist in den Dreißigern und hat immer noch Mühe, sich Koteletten wachsen zu lassen.
»Ach, verdammt.« Mitfühlend lasse ich mich auf den Hocker neben ihm sinken.
Sehen Sie, genau das liebe ich so an Miles. Er wird nicht sauer, wenn ich mal zu spät komme. Kein Riesenstreit. Nur seine gewohnt beherrschte, ruhige Art.
»Und was sieht noch gut auf der Karte aus?« Ich ziehe meinen Mantel aus und nehme mir eine der fleischigen grünen Oliven aus dem Schälchen. »Mmm, die schmecken ja köstlich.«
Endlich kann ich versuchen, mich ein wenig zu entspannen. Etwas trinken. Essen. Ich reibe mir den Magen. Der Knoten, der sich den ganzen Tag über dort eingenistet hat, beginnt sich allmählich aufzulösen.
»Tja, das Fischgericht des Tages klingt ganz interessant …« Mit zusammengekniffenen Augen blickt er zur Tafel an der Wand hinüber, die Stirn in konzentrierte Falten gelegt, und versucht, trotz seiner Kurzsichtigkeit, Buchstaben zu erkennen. Er sieht so süß aus, wenn er das macht.Wie ein Schuljunge und nicht wie ein erfolgreicher Grundstücksmakler in den Dreißigern.
»Gute Wahl.«
Eine Männerstimme lässt mich herumfahren. Ein Stück neben mir sitzt ein Mann allein vor seinem Teller. Er hat kurze dunkle Locken, und auf seiner Nasenspitze sitzt eine kleine runde Brille, die ziemlich verbogen aussieht.
»Ich würde den Fisch jedenfalls empfehlen«, fährt er fort und zeigt lächelnd auf seinen Teller.
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