Heute Und in Ewigkeit
sei ich eine kostbare Trophäe. Ich merkte ihr an, dass sie mich retten wollte. »Ich habe Angst um meine Schwester«, stieß ich hervor. »Ich glaube, sie will sich umbringen.«
»Denk daran«, schärfte ich Merry ein paar Tage später ein. »Du musst heute besonders lieb sein. Diese niedliche Nummer, die du so gut draufhast.«
»Was denn für eine niedliche Nummer?« Merry wich zurück, als ich ihr die Bluse in den Bund steckte. »Lass das. Ich bin kein
Baby mehr. Ich werde diesen Monat zehn.«
Ich verdrehte die Augen. »Sei einfach du selbst.«
»Warum führt Mrs. Cohen uns denn aus?«
Ich überlegte, wie viel ich ihr sagen sollte. Alles, was meine Schwester dachte, stieg leicht an die Oberfläche, und dann platzte sie damit heraus. Man konnte nie wissen, was sie alles nachplappern würde. »Weil sie mich besonders klug findet und dich besonders niedlich.«
»Ehrlich?« Merry neigte den Kopf zur Seite und bewies damit, wie besonders niedlich sie aussehen konnte. Wusste sie das? Wusste meine kleine Schwester, wie sie die Welt bezaubern konnte, nur indem sie dieses Gesicht aufsetzte?
»Ich habe sie dazu gebracht.« Ich hatte nicht vor, Merry etwas von meinen traurigen Gesprächen mit Mrs. Cohen zu erzählen, über Merrys Depression. Darüber, wie sehr ich befürchtete, sie könnte sich etwas antun. Dass ich manchmal den ganzen Tag lang nichts essen könne, weil es mir die Kehle zuschnürte. Ich hatte so dick aufgetragen, dass es mich beinahe wunderte, wie meine Worte es durch die dicken Lügenschichten hindurchgeschafft hatten. »Vielleicht findet sie eine Pflegefamilie für uns.«
»Nein!«, schrie Merry. »Crystal hat mir von denen erzählt. Sie war mal in einer Pflegefamilie. Sie hat gesagt, da wäre es noch viel schlimmer gewesen als hier. Die haben sie zu einer Sklavin gemacht.« Merry trat nach mir. »Ich gehe nicht mit. Du kannst mich nicht zwingen.«
»Du gehst überall hin, wenn ich es dir sage«, erwiderte ich. Ehe sie durchdrehte, fügte ich hinzu: »Misses Cohen will mit uns Eis essen gehen. Zu Jahn's.«
Merry verstummte mitten im Geschrei. Pudding oder Eis bekamen wir so selten, dass es für uns etwas ganz Besonderes war, und bei Jahn's servierten sie einem das Eis praktisch eimerweise. Oma war letzten Dezember zu Merrys neuntem Geburtstag mit uns hingegangen.
»Was, wenn sie uns in zwei verschiedene Familien schicken?«, fragte Merry.
Einen gemeinen Moment lang dachte ich darüber nach, wie das Leben ohne meine Schwester wäre, die sich auf mich stützte, ohne die ständige Verantwortung für Merrys Leib und Seele, doch ehe die Idee Fuß fassen konnte, schlug ich sie mir aus dem Kopf.
Wir waren hier, weil ich meinen Vater hereingelassen hatte. Merry trug ihre Narbe, weil ich ihm die Tür aufgemacht hatte. Deshalb waren wir im Duffy. Bilder von Mutters reglosem Körper stiegen von da auf, wo ich sie vergraben hatte. Ich hatte meinen Vater in unsere Wohnung gelassen. Ich hatte es erst möglich gemacht, dass er allen so wehtat.
»Das würde Misses Cohen nie zulassen. Und ich auch nicht. Wir bleiben immer zusammen«, sagte ich.
»Versprochen?«
Merry hielt mich für allmächtig. »Versprochen, aber du musst dich heute tadellos benehmen. Perfekt. Misses Cohen muss uns richtig, richtig mögen. Sie ist der einzige Mensch auf der Welt, der uns vielleicht aus dem Duffy rausholen kann, ehe noch etwas Schlimmes passiert.«
»Was denn?« Merry sah verängstigt aus. Gut. Wenn das dazu nötig war.
»Dass sie mir oder dir ganz schlimm wehtun. Oder uns trennen.«
»Du hast es versprochen«, flüsterte sie.
»Ich weiß, aber du musst mir helfen, damit ich mein Versprechen halten kann. Du musst dafür sorgen, dass Misses Cohen dich mag. Dass sie dich richtig lieb hat.«
Jahn's Ice Cream Parlor fühlte sich so kühl und glatt an wie das Eis, das sie dort servierten. Alles war aus schimmerndem Marmor und glänzend poliertem Holz. Die Luft duftete nach Zucker.
»Bestellt die denn irgendwer?« Merry deutete auf ein Foto von einer riesigen Schale mit drei Kugeln Eiscreme, Schokolade, Erdbeere und Vanille, mit Bananen und Schlagsahne obendrauf.
»Vielleicht Jungen im Teenageralter«, sagte Mrs. Cohen. »Ich glaube, ein Riesenbecher wäre ein bisschen zu viel für dich.«
Merry riss die Augen auf. »Ich wollte aber doch keinen bestellen, Misses Cohen.«
»Das wollte ich damit auch nicht sagen, meine Süße.« Mrs. Cohen legte Merry den Arm um die Schultern und drückte sie fest. »Bestell dir, was
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