Hex Hall 02 - Hawkins, R: Hex Hall 02
hatte mir nach dem dritten Mal definitiv keinen angewiderten Blick zugeworfen und gesagt: »Entspann dich mal, okay?«
Und auch als uns Jenna einen fragenden Blick zuwarf, hatten wir sie bestimmt nicht wie aus einem Munde angeblafft: »Nichts!« Denn alles andere wäre wirklich schräg gewesen, und Cal und ich waren einfach nicht schräg. Wir waren cool.
»Bald fühlst du dich besser«, sagte Dad. Zum ersten Mal, seit ich ihn kennengelernt hatte, leuchteten seine Augen, und er wirkte sogar richtig entspannt. So geht es wohl einem Mann, wenn er in sein Heimatland zurückkehrt.
Vor Aufregung hüpfte Jenna geradezu auf und ab, aber Cal sah ebenso müde aus, wie ich mich fühlte. Im Flugzeug hatte ich einfach nicht schlafen können, und jetzt bezahlte ich dafür. Meine Augen brannten und waren furchtbar trocken, und ich konnte an nichts anderes denken, als endlich in irgendein Bett zu fallen. Schließlich glaubte mein armer Körper, es sei sechs Uhr morgens, und in England war es fast Mittag. Außerdem kam es mir so vor, als säßen wir schon seit endlosen Stunden in diesem Wagen.
Nachdem das Flugzeug in London gelandet war, ging ich davon aus, der Wagen würde uns zu einem Haus in der Stadt bringen oder vielleicht zum Hauptsitz des Rates, damit Dad seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigen konnte. Aber stattdessen hatte der Wagen die bevölkerten Straßen verlassen und war an kleineren Häusern vorbeigefahren, die sich alle dicht aneinanderdrängten, was mich stark an eine Erzählung von Dickens erinnerte. So nach und nach waren die Backsteinhäuser dann Bäumen und sanft gewellten, grünen Hügeln gewichen. Ich hatte mittlerweile mehr Schafe gesehen, als in meiner Vorstellung überhaupt existieren dürften.
»Also sind wir den ganzen weiten Weg nach England allein deshalb gekommen, um irgendwo im Nirgendwo rumzuhängen?«, fragte ich und lehnte meinen pochenden Kopf an Jennas Schulter.
»So ist es«, erwiderte Dad.
Cal lächelte. Ja, klar, er war bestimmt begeistert, wenn er den ganzen Sommer auf irgendeinem britischen Bauernhof rumhocken konnte, dachte ich mürrisch. Und all meine Träume von Big Ben und Buckingham Palace und Tower Bridge lösten sich in nichts auf. Aber für ihn gab es wahrscheinlich unendlich viele englische Pflänzchen zu heilen …
Dann entdeckte ich ein Haus.
Obwohl Haus sicher keine treffende Bezeichnung dafür war. Ebenso gut hätte man die Mona Lisa auch als Bild oder Hecate Hall einfach als Schule bezeichnen können. Im Prinzip war der Begriff zwar korrekt, brachte die Realität des Gegenstandes jedoch nicht einmal ansatzweise zum Ausdruck.
Dieses Haus zählte mit Abstand zu den größten Gebäuden, die ich je gesehen hatte, erbaut aus einem hellen, goldfarbenen Stein, der irgendwie den Anschein hatte, als werde er sich ganz warm anfühlen – eingebettet in ein üppiges Tal. Vor dem Gebäude erstreckte sich ein smaragdgrüner Rasen, und dahinter erhob sich ein bewaldeter Hügel. Anmutig schlängelte sich ein schmales, glitzerndes Band aus Wasser an einer Seite des Anwesens entlang. Und buchstäblich Hunderte von Fenstern reflektierten das Sonnenlicht.
»Wow«, sagte Cal und beugte sich vor, um aus dem Fenster zu schauen.
»Hier werden wir wohnen?«, fragte ich ungläubig.
Dad lächelte wieder nur und sah dabei viel zu selbstzufrieden aus. »Ich habe dir ja gesagt, dass für alle genug Platz sein würde«, bemerkte er. Ich ertappte mich dabei, dass ich sein Lächeln erwiderte. Einen Moment lang sahen wir einander in die Augen, doch ich wandte zuerst den Blick ab und deutete mit dem Kopf auf das Haus. »Haben solche Häuser nicht auch immer einen Namen?«
»Meistens jedenfalls«, antwortete er. »Darf ich vorstellen? Thorne Abbey.«
Irgendetwas an diesem Namen kam mir sehr bekannt vor, aber mir fiel nicht gleich ein, weshalb. »Das war mal eine Kirche?«
»Dieses Haus nicht, nein. Es wurde erst Ende des 16. Jahrhunderts erbaut. Aber früher stand hier auf dem Gelände eine Abtei.«
Dann schaltete er auf Vortragsmodus um und referierte darüber, wie die Abtei unter Heinrich VIII . dem Erdboden gleichgemacht und das Land der Familie Thorne übergeben worden war.
Aber um ehrlich zu sein, ich hörte gar nicht richtig hin. Meine Aufmerksamkeit galt vielmehr den Leuten, die da gerade durch die Vordertür des Hauses traten. Ich entdeckte ein Paar Flügel und fragte mich, wer genau Dads Freunde eigentlich sein mochten.
Der Wagen holperte über eine Steinbrücke und bog in eine
Weitere Kostenlose Bücher