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Hex

Titel: Hex Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Plattform und klammerte sich an seine Außenseite. Er streckte den rechten Arm aus und bekam mit Mühe das Fenstergitter zu packen. Seine Sinne hämmerten ihm ein, wie aussichtslos sein Plan war.
    Er stieß sich ab. Wenn das Gitter rostig war oder morsch, wenn es aus der Verankerung brach oder die Steine splitterten – aber, nein, das Gitter hielt! Einen Augenblick später baumelte er mit beiden Armen am Fenstergitter und strampelte mit den Füßen frei in der Luft. Er mußte sich beruhigen, mußte seine Furcht überwinden! Stöhnend und nicht einmal mehr in der Lage zu fluchen, zog er sich mit aller Kraft nach oben. Er war nie gut in Klimmzügen gewesen, trotzdem gelang es ihm irgendwie, die Füße auf die unteren Gitterstreben zu setzen. Wie ein Affe hing er mit angezogenen Knien am Fenster, betete, daß das Gitter sein Gewicht hielt, und versuchte zugleich, mit der linken Hand den Rand des Flachdaches zu packen. Die Kante aus Teerpappe führte im rechten Winkel von der Mauer weg. Wenn es ihm gelang, sich fest genug abzustoßen...
    Die Soldaten erreichten den oberen Treppenabsatz und blickten ihm brüllend hinterher. Vergeblich reckten sie ihre Arme über den Abgrund, um ihn zu packen. Der erste schwang sich über das Geländer, um Max zu folgen.
    Max sprang, schräg nach hinten, und versuchte, sich in der Luft zur Seite zu drehen. Aber er war kein Artist, nicht mal ein guter Kletterer, und so krachte er mit der linken Hüfte auf die Kante, schrie gequält auf und zog sich trotzdem irgendwie aufs Dach. Einige Sekunden lang blieb er liegen, schwindelig von der Höhe und betäubt vom Schmerz, dann gelang es ihm, sich aufzurappeln. Die Soldaten brüllten und schimpften, während der Mann, der übers Geländer geklettert war, immer noch zögerte, sich abzustoßen. Auch ihm war die Höhe alles andere als geheuer.
    Max hinkte los, quer über das Flachdach, zu einem winzigen Fenster. Vom angrenzenden Hauptdach zerrte er eine Dachziegel und schmetterte sie in die Scheibe. Das Glas splitterte. Max steckte seinen Arm hindurch, löste den Riegel, dann kletterte er ins Innere. Er hörte, wie die Soldaten auf der Feuertreppe ihren Kameraden im Hof zuschrien, sie sollten ihn im Treppenhaus abfangen.
    Der Schmerz in seiner Hüfte legte sich allmählich. Max stürmte über einen staubigen Speicher zu einer Holztür. Er riß sie auf und sprang die oberste Treppe hinunter. Unten im Haus erklang das Lärmen seiner Verfolger, die ihm jetzt entgegenkamen.
    Rasch sah er sich nach einer Möglichkeit um, ihnen abermals zu entkommen. Ein Stockwerk unter ihm entdeckte er eine Wohnungstür. Vielleicht konnte er sie vor den Soldaten erreichen.
    Und dann? Egal. Hauptsache weiter.
    Er hetzte die Stufen hinab, kam völlig außer Atem vor der Tür zum Stehen. Mit den Fäusten hämmerte er dagegen. Die ersten Soldaten erreichten die Zwischenetage direkt unter ihm. Noch fünfzehn oder zwanzig Stufen, dann waren sie bei ihm. Ihre schwarzen Schlagstöcke glänzten wächsern in der dämmrigen Treppenbeleuchtung.
    Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet. Ein eingefallenes, grell geschminktes Frauengesicht erschien. Jetzt erst fiel Max das schludrig mit roter Farbe auf die Tür geschmierte Herz auf. Parfümschwaden wehten ihm entgegen.
    Er warf sich achtlos gegen die Tür, die Frau stolperte zurück. Ehe die Soldaten die Etage erreichten, hatte Max die Tür bereits von innen zugeworfen. Er befand sich in einem langen Flur, von dem sechs oder sieben Zimmer abzweigten. Zwei Türen wurden aufgerissen, und ein Paar gealterter Huren starrte ihm verängstigt entgegen.
    Max kümmerte sich nicht um sie, genausowenig wie um die jüngere Frau, die ihm geöffnet hatte. Schimpfend rannte sie hinter ihm her, als er den Flur hinab in Richtung eines Hinterzimmers lief. Durch die offene Tür erkannte er Plüschsofas und rote Teppiche. Dicke Vorhänge schirmten den Raum gegen das Tageslicht ab.
    Draußen im Treppenhaus hämmerten und schrien die Soldaten. Die Tür würde sie im Höchstfall noch eine Minute aufhalten.
    Max stürmte ins Empfangszimmer der Damen – und blieb wie angewurzelt stehen.
    Sechs Männer der Schwarzen Reichswehr saßen auf den Sofas und ließen sich von großzügig dekolletierten Mädchen umgarnen. Als Max hereinkam, sprangen drei der Soldaten auf. Die übrigen brauchten einen Augenblick länger, doch ehe Max sich versah, kamen auch sie auf ihn zu.
    »Das ist er!« rief einer von ihnen, dem seine Verblüffung besonders deutlich anzusehen

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